Scheibes Glosse: Live dabei!
Wenn die angesagten Bands in die Großstadt kommen und in der Outdoor-Location viele tausend Menschen auf das Erwachen der überdimensionierten Bass-Boxen warten, dann steht allen ein toller Abend bevor. In der toten Stunde zwischen der Platzeroberung und dem Einsetzen der eigentlich überflüssigen Vorband bleibt ausreichend Zeit, um sich mit den Schattenseiten eines typischen Konzerts auseinanderzusetzen.
Während die Massen langsam von der Bahn, der Bushaltestelle und den mühsam in der Nachbarschaft eroberten Parkplätzen zum Konzertplatz drängeln, stehen überall an den Kreuzungen verzweifelte Fans, die selbstgeschriebene Schilder hochhalten: “Karte übrig?” In den Schatten warten die Dealer, die einem im Vorübergehen zuflüstern: “Braucht ihr noch eine Karte?” Ich frage mich jedes Mal: Wäre das Universum nicht ein glücklicherer Ort, wenn diese Menschen direkt zueinanderfinden könnten?
Schlauer sind da doch die Geschäftsleute, die kurz vor der Konzert-Location noch einen Stand aufgebaut haben: “Letzte Tankstation. Jetzt noch ein Bier trinken!”
Vor der Freilichtbühne, dem Amphitheater oder dem lichten Rasenplatz, auf dem das Konzert stattfindet, müssen alle Fans noch durch das schlimmste aller Nadelöre: die Einlasskontrolle. Wie schön waren die Zeiten, als man noch einen Rucksack mit dabei haben durfte, in dem alles sauber verstaut war, was für das Konzert benötigt wird. Jetzt muss ich Sitzkissen, Pulli, Wasserflasche, Taschentücher, Bonbons etc. alles in den Händen tragen. Denn mit ins Konzert darf man nur noch Taschen nehmen, die nicht größer sind als ein A4-Blatt. Gibt es solche Taschen überhaupt? Klar, die Handtaschen der Frauen. Ein Blick der Kontrollettis hinein zeigt: Das Deo muss leider abgegeben werden. Echt jetzt? Hat jemand Angst, dass daraus mit Feuerzeug ein Flammenwerfer wird? Alter – es ist ein Deoroller!
Das Merchandising der angesagten Band beginnt inzwischen nicht mehr bei den überteuerten T-Shirts und Kapuzenpullis, die es an einem Stand zu kaufen gibt. Inzwischen werden auch die Bier- und Colabecher, die gegen horrenden Pfand ausgegeben werden, mit dem Bandlogo gelabelt. Klar, die nimmt man euphorisch als Sammlerstück mit nach Hause und lässt sie im Schrank verstauben. So bleibt auch noch der Pfand bei den Getränkeverkäufern.
Um gute Plätze zu bekommen, von denen aus man die Band in echt und nicht nur auf den aufgestellten, grobpixeligen Leinwänden sehen kann, geht man früh aufs Konzert. Doch bis die Vorband einsetzt, dauert es. Also schaut man sich um und guckt sich die Menschen an. Interessanter als Frisuren, Tattoos und Klamotten ist eigentlich das, was die Leute ins Konzert mitbringen. Tupperware mit Tomaten-Mozzarella, schön geschmierte Stüllchen, panierte Schnitzel, kleine handliche Buletten, Käsekuchen oder Knabbernüsse. Man könnte glatt ein großes Buffet aufbauen. Und spart so eine Monatsmiete ein, weil man kein Essen an den aufgestellten Buden einkaufen muss.
Und dann – die Vorband. Naja. Niemand kennt sie, niemand will sie, niemand braucht sie. In Lautstärke, Sound und Bühnenbild reduziert mühen sich in der Regel unbekannte Musiker mit der Aufgabe ab, viele tausend Fans für sich zu begeistern, die eigentlich wegen einer ganz anderen Band gekommen sind. Da muss schon einiges passieren, damit das Auditorium zu toben beginnt. Ich erinnere mich an die Berliner Sängerin, die Ärger mit ihrem Freund hatte und das gesamte Publikum darum bat, doch bitte bei ihrem Song über das Zerwürfnis gemeinschaftlich den Mittelfinger zu heben. Ich bin mir sicher, der betroffene Ex wird das wie einen Nadelstich in einer Voodoo-Puppe gespürt haben. Autsch.
Wenn man dann schon zwei Stunden Lebenszeit verplempert hat, zum blutarmen Opfer der Mücken geworden ist, eine Apathie gegen die Nachbarn entwickelt hat und langsam aufs Klo muss (an dem sich Hundertschaften in die Schlange gestellt haben), dann ist die Vorband fertig – und es muss umgebaut werden. Um-ge-baut.
Immerhin kann man dabei noch zuschauen. Die halbe Stunde, die anschließend folgt, wird nur noch mit Fahrstuhlmusik vom Band gefüllt. Die Band wartet im Off, bis es dunkel wird. Bis die Fans genug Radau machen. Bis es nur noch anderthalb Stunden bis zur magischen Grenze 22 Uhr ist, wo das Konzert eh beendet sein muss.
Ich habe Leute gesehen, die überbrücken diese Zeit mit einem Schläfchen, mit einem Kartenspiel, mit einem kurzweiligen Streit mit der Liebsten, mit einem sinnlosen Freßgelage oder mit dem Versuch, die fremde Nachbarin anzubaggern. Gute Idee: Eigentlich könnte ich doch einen Laptop (ist doch A4!) mitbringen, um meine letzten Texte Korrektur zu lesen.
Froh muss man sein, dass man nicht im Kessel direkt vor der Bühne steht, wo sich ganz kurz vor Konzertstart noch ein paar dreiste Fans wie Wattwürmer in den kleinstmöglichen Wohlfühlabstand hineinwinden – und plötzlich Pogo tanzen möchten.
Dann kommt endlich die Band – und die ersten Beats dröhnen durch den Bass. “Berlin, seid ihr alle da?” Klar, du Torfnase, wo sollen wir sonst sein? (Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 210 (9/2023).
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