Scheibes Glosse: Wie geht es dir?
Die meisten von uns zeigen in manchen Situationen ein Verhalten, das bestenfalls als wunderlich eingestuft werden kann. Solche Marotten sind oft völlig harmlos. Es gibt Menschen, die versuchen beim Tanken immer auf einen glatten Euro-Betrag zu kommen. Andere “dürfen” beim Fernsehen erst umschalten, wenn die Figur auf dem Bildschirm ihren Satz beendet hat. Ich habe auch einen echten Knall: Ich muss immer die Wahrheit sagen, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht.
Seit vielen, vielen Jahren habe ich ein echtes Problem. Fragt mich jemand, wie es mir geht, so ertappe ich mich immer wieder aufs Neue dabei, wie ich ganz tief in mich hineinhöre, um dann ausschweifend zu beantworten, was mit mir gerade los ist.
Ich verstehe durchaus das Small-Talk-Prinzip, das hinter der Frage “Wie geht es dir?” steht. Ich weiß genau, dass es reicht, wenn ich kurz angebunden die Antwort gebe: “Mir geht es gut. Und dir?” Allerdings: Ich kann so einfach nicht antworten. In der Folge läuft ein ganz normaler Tag bei mir wie folgt ab:
Bereits morgens beim Verlassen vom Haus treffe ich auf den Briefträger. Der fragt ganz nett: “Und, Herr Scheibe, alles schick bei Ihnen?”
Ich antworte: “Ach wissen Sie, ich bin heute wieder extrem müde. Ich bin viel zu spät ins Bett gegangen, habe dann noch ewig gelesen. Da ich aber beim Arbeiten direkt vor Mitternacht noch einen Energy Drink getrunken habe, konnte ich einfach nicht einschlafen. Und jetzt bin ich so müde, als wäre ich erst einen Marathon gelaufen und hätte dann das deutsche Telefonbuch ins Altgotische übersetzt. Ich würde mich am liebsten gleich hier auf den Boden legen, mein Kopf auf die Post des Tages betten und ein Schläfchen abhalten. Ich überlege tatsächlich, halb schlafend durch den Tag zu kommen, indem ich dauernd ein Auge geschlossen halte.”
Ich schaue auf, da ist der Briefträger schon lange weitergefahren. Noch auf dem Fahrrad schüttelt er den Kopf.
Beim Einkaufen treffe ich den Ulf, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe, den ich aber sowieso nur sehr flüchtig kenne. Am Obstregal stellt er mir die vermaledeite Frage: “Und? Wie geht’s?”
Ich antworte: “Ach weißt du, mir geht’s echt dreckig. So rein gesundheitlich. Alles tut weh, und ich meine wirklich alles. Mein Rücken schmerzt, als würde mir jemand die Wirbel ohne Betäubung mit einer Rohrzange auseinanderdrehen. Die Nieren ziehen, als hätten sich kleine, fette Kobolde drangehängt. Unter der Haut wachsen komische knorpelige Knubbel, auf der Haut wechseln lauter dunkle Flecken jeden Morgen ihre Besorgnis erregende Farbe. Aus sämtlichen Drüsen laufen merkwürdige Sekrete. Und Haare wachsen plötzlich an Stellen, die gestern noch völlig glatt waren. Laut Dr. Google habe ich wenigstens zehn tödliche Krankheiten. Den nächsten Morgen werde ich sicherlich nicht mehr erleben.”
Ulf schaut mich an wie eine Kakerlake. Dann dreht er sich wortlos um und schiebt seinen Einkaufswagen weiter.
Abends in der Stadthalle winkt mir ein Bär von Mann von der lokalen Security zu. Er hat Tattoos überall und sieht aus, als würde er morgens zum Frühstück Eisenstangen verbiegen und dann als Zahnstocher verwenden. Er macht nur einen Fehler. Er fragt mich ebenso freundlich wie unverbindlich, wie es mir geht.
Ich sage: “Boah, ich bin so überarbeitet, dass sich um meinen Kopf herum die Zeit dehnt. Die Wirklichkeit zieht sich in Strudeln zusammen und meine gesamte Haut kribbelt, als hätte ich sie erst in Batteriesäure und dann in Brausepulver getunkt. Mein Hirn ist angeschwollen, es tropft mir in Strömen aus der Nase. Gleichzeitig bin ich so unfassbar sensibel, dass jede Kritik mich zum Weinen bringen könnte. Möchtest du mich kritisieren?”
Der Hühne schüttelt mit dem Kopf. Seine Hand wandert dabei zu seiner Jackentasche. Ob er da Tränengas versteckt hat?
Noch später spricht mich der unfassbar nette Torsten an, der immer nur freundliche Worte für alle findet. Der Abend hätte für uns beide so schön enden können, würde er nicht freundlich fragen: “Hey Carsten, wie geht es dir?”
Ich antworte: “Ich fühle mich gerade aus welchem Grund auch immer voll aggro, du hässlicher Schleimfuß von einem verschimmelten Borstenwurm. Ich habe eine Wut in mir, dass ich deine Haustiere fressen und den Rasen in deinem Vorgarten verwüsten könnte, du nach vergammeltem Kohl müffelnder Grottentroll.”
Ich glaube, ich geh schlafen. Da kann wenigstens niemand nachfragen, wie es mir gerade geht. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 213 (12/2023).
Seitenabrufe seit 27.12.2023:
Kennen Sie schon unsere Gratis-App?
Apple – https://unserhavelland.de/appapple
Android – https://unserhavelland.de/appandroid
Anzeige