Scheibes Glosse: Wir fliegen in den Urlaub!
Wer in den Urlaub fliegt, kann etwas erleben. Leider hat sich in den letzten Jahren im Tourismussektor sehr viel getan. Wer heute in den Flieger steigt, bekommt nicht nur ein schlechtes Gewissen wegen der CO2-Verschmutzung verpasst, sondern muss sich auch noch mit dem Kleingedruckten beim Buchen, mit immer neuen E-Mails, mit enger gestellten Sitzen, fehlenden Mahlzeiten und mit Kevin beschäftigen.
Hurra. Es geht in den Urlaub. Der Trip soll in eine südliche Stadt am Meer gehen. Das ist viel zu weit weg, um die Strecke mit dem Auto zu bewältigen. Also müssen Plätze im Flieger gebucht werden.
Leider fliegen nur noch die sogenannten Billig-Airlines an den gewünschten Zielort. Das klingt zunächst ganz gut. Ich kann die Flüge online buchen. Und sie sind nicht teurer als eine Portion Currywurst mit Pommes, was schon einmal ein echter Vorteil ist. Aber dann komme ich auf die Seite mit den freiwilligen Bonus-Optionen. Anscheinend waren im genannten Preis bislang noch keinerlei Gepäckstücke enthalten, also weder das Handgepäck noch der Koffer. Ich kann außerdem einen Sitzplatz reservieren, was ebenfalls Geld kostet. Und dann gibt es da auch noch bessere Sitzplätze als die normalen. Ich kann außerdem ein Essen buchen. Und Getränke reservieren. Vielleicht auch ein besonderes Fast-Boarding in Anspruch nehmen. Am Ende kostet mich die neumodische Fliegerei fast mehr als ein Essen im Sternerestaurant für sechzehn Personen.
Aber ich will verreisen, also buche ich den Flug. Womit ich nicht gerechnet habe: Ständig bekomme ich nun neue Status-Mails zugestellt. Der Flug habe sich um drei Minuten verschoben. Die gebuchte Maschine wurde ausgetauscht, weswegen die reservierten Sitzplätze keine Gültigkeit mehr haben. Das Gate habe sich geändert. Ob ich mich neu einloggen und vielleicht neue Sitzkarten ausdrucken könnte?
Am Reisetag selbst gibt es kein Personal mehr am Flughafen. Ich soll meinen Koffer auf eine komische Maschine stellen, meine elektronische Bordkarte scannen und auf diese Weise selbst meinen Koffer wiegen. Ein Aufkleber wird gedruckt, der Koffer wird auf ein Band gestellt – weg ist er.
Dann geht es durch die Sicherheit. Alles soll ich ausziehen, die Schuhe, den Gürtel, die Jacke. Noch ein bisschen mehr – und wir könnten einen FKK-Flieger vollmachen. Ich werde plötzlich aus der Schlange gezogen, der Zufallsgenerator hat mich ausgewählt. Ich soll mit meinen Fingern über ein Stück Papier wischen. Auf diese Weise soll herausgefunden werden, ob ich in den letzten Stunden mit Sprengstoff in Berührung gekommen bin. Zum Glück funktioniert der Test: Ich darf weitergehen.
Irgendwann ist auch die Maschine da, das Boarding beginnt. Auch das ist nicht mehr so einfach wie früher. Das Flugzeug ist inzwischen in Zonen von A bis Z aufgeteilt – und außerdem gibt es da ja auch noch den Fast-Pass fürs besonders schnelles Boarding. Für den ich allerdings zu geizig war. Und so darf ich erst in den Flieger steigen, als alle anderen schon an Bord sind.
Ich komme leider nicht zu meinem Sitzplatz. Vor mir versuchen nämlich lauter Fluggäste ihr maßlos überdimensioniertes “Handgepäck” in die Gepäckablage über den Sitzen zu stopfen. Alter, da wollten wohl so einige Reisenden ihre Koffer nicht als “Koffer” aufgeben.
Jemand bohrt mir von hinten einen Finger in den Po. Ich höre eine sorgenvolle Mutter sagen: “Lass das, Kevin, wer weiß, wo der Herr schon drin gesessen hat.” Ich bin genervt und würde mich am liebsten direkt auf Kevin setzen.
An meinem Platz ist es so eng wie in einer MRT-Röhre. Ich bin nicht groß, aber meine Knie stoßen so heftig am Vordersitz an, dass ich sofort weiß, da fehlen mindestens fünf Zentimeter fürs bequeme Sitzen. Nun stellt auch noch der Passagier vor mir seine Lehne nach hinten, sodass sie mir fast die Nase bricht. Jemand schaut mich über die Rückenlehne an und grinst: Kevin!
Früher gab es während des Flugs eine kulinarische Aufmerksamkeit, meist Betonhühnchen mit Matscheerbsen und Zementkartoffelbrei. Das war einmal. Heute muss man für alles extra bezahlen. Der Herr neben mir hat darauf keine Lust. Er holt seine Brotbüchse hervor: Hmm, das duftet aber. Knoblauch-Trüffel-Salami. Gut abgehangen. Da haben auch die Fluggäste zehn Reihen vor und hinter uns etwas davon. Für das olfaktorische Kontrastprogramm sorgt die Dame auf der anderen Seite. Sie probiert alle Parfums aus dem Bordshop aus. Die Luftdüse bläst mir die schweren fleuralen Düfte direkt in die Nase: Mir wird übel.
Aber auch der schlimmste Flug geht vorbei. Kevin hat endlich damit aufgehört, sich permanent zu übergeben, und ich darf den Flieger verlassen. An der Kofferausgabe drängeln sich alle, um nur ja am schnellsten bei ihrem Gepäck zu sein. Ich erwische meinen Koffer, wuchte ihn vom Band und schleudere Kevin dabei aus Versehen aufs Förderband. Ich schaue dabei zu, wie er im Inneren des Flughafens verschwindet. Plötzlich macht mir das Fliegen wieder richtig viel Freude. (Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 207 (6/2023).
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