Frau Gottschlag betreut: Mit 70 Jahren bei der Lebenshilfe!
Das Ambulant Betreute Wohnen direkt in der Falkenseer Bahnhofstraße erlaubt es Menschen mit geistigen Behinderungen, sehr autark in einer eigenen Wohnung zu leben. Der Verein Lebenshilfe Havelland e.V. fungiert hier als Vermieter, kümmert sich aber auch um die tägliche Betreuung der Bewohner. Eine dieser Betreuerinnen ist Ingrid Gottschlag. Sie hat in der Lebenshilfe mit 64 Jahren noch einmal eine ganz neue Aufgabe gefunden.
Ingrid Gottschlag ist das perfekte Beispiel für jemand, der nach einem langen Berufsleben im Ruhestand noch einmal eine komplett neue Profession annimmt – und sich auf diese Weise neu erfindet.
Die Seiteneinsteigerin in der ambulanten Wohnbetreuung ist Urfalkenseerin: “Ich habe noch nie woanders gelebt.”
Sie ist gelernte Zerspanerin, war in diesem Beruf aber nur ein Vierteljahr lang tätig. Sie erinnert sich: “Wir haben im Schichtbetrieb mit Gussstahl gearbeitet. Ich habe danach drei Jahre lang im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf gearbeitet. Dann kam 1973 mein Sohn auf die Welt – und ich habe mit der Arbeit aufgehört. Auch hier war es mir viel zu viel Schichtarbeit. 1975 habe ich in Brieselang im Gerätebau angefangen – und da bin ich dann auch bis 1989 geblieben. Nach der Wende habe ich bei der Mebatron GmbH bis 2014 zum Eintritt in die Rente gearbeitet. Ich durfte schon mit 63 Jahren ohne Abzüge in die Rente gehen, weil ich da bereits 45 Jahre lang voll gearbeitet hatte. Wenn ich an meine Arbeitszeit zurückdenke, dann habe ich immer Probleme mit dem frühen Aufstehen gehabt, das war einfach nicht meins. Eigentlich habe ich immer davon geträumt, ein ganzes Jahr lang Zuhause zu bleiben, um die vier Jahreszeiten einmal ganz bewusst zu erleben.”
Zur Lebenshilfe gekommen: “Habe Minijob gesucht”
Dass Ingrid Gottschlag mit 64 Jahren zur Lebenshilfe gefunden hat, lag nicht vordergründig am Wunsch, etwas für die Menschen zu tun: “Es lag ganz klar an dem Fakt, dass ich meine Rente aufbessern wollte. Ich habe gezielt nach einem Minijob gesucht. Meine Nachbarin arbeitete damals bei der Lebenshilfe. Sie hat mich dazu gebracht, mich hier einmal zu bewerben – und dafür bin ich ihr immer noch dankbar.”
Im Januar 2015 begann Ingrid Gottschlag in der Wohngemeinschaft der Lebenshilfe zu arbeiten: “Das war schon ein ganz anderes Metier für mich. Aber ich habe mich schon immer sehr für die Menschen interessiert und bin auch schon lange Mitglied im ‘Landesverband Angehöriger psychisch kranker Menschen in Brandenburg’. Ich bringe auch die nötige Empathie mit, die man haben muss, wenn man mit Menschen arbeitet. In der WG habe ich acht Erwachsene betreut. Wenn diese nachmittags von den Werkstätten nach Hause kamen, habe ich mich darum gekümmert, dass Arzttermine gemacht werden, dass wir zusammen kochen, dass Freizeitangebote stattfinden konnten und dass Konflikte geklärt wurden. Ich hatte bei meinem Start Kollegen vor Ort, die mich ganz toll eingearbeitet haben, sodass ich den Alltag der Bewohner ganz in Ruhe kennenlernen konnte. Ich musste aber auch lernen, mich durchzusetzen.”
Das Arbeiten am Nachmittag und auch am Wochenende war für Ingrid Gottschlag kein Problem: “Ich habe keine Enkelkinder und keine Eltern, die ich pflegen muss. Ich hatte ja die Zeit.”
Seit 2017 betreut Ingrid Gottschlag vier Bewohner aus dem Ambulant Betreuten Wohnen der Lebenshilfe: “Da fällt die Wochenendarbeit weg, es sei denn, es stehen einmal Ausflüge an. Auch hier helfe ich ansonsten dabei, Arzttermine zu machen, die Freizeit zu gestalten oder den Einkauf zu bewältigen. Die gesunde Ernährung steht bei uns gerade ganz weit oben auf der Agenda, denn viele der Bewohner haben Diabetes oder sind übergewichtig. Vieles ist jetzt durch Corona leider weggebrochen, so etwa der monatliche Bowlingabend, die Dampferfahrten oder ein gemeinschaftliches Kochen. Für viele der Bewohner ist es eine schwere Zeit.”
Die Arbeit vor Ort macht der Quereinsteigerin immer viel Spaß: “Eins kann ich ganz klar sagen: Ich habe in meinem gesamten Arbeitsleben noch nie so viel positives Feedback bekommen wie hier. Es ist eine sehr nützliche und wichtige Arbeit. Oft geht es auch sehr lustig zu. So habe ich bei den Bewohnern die verrücktesten Schlager zu hören bekommen, da wusste ich vorher gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Und die Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen sind immer so wahrhaftig und offen, die verstellen sich nie. Auch wenn es doch eigentlich eine Arbeit ist, baut man doch sehr enge Bindungen zu den betreuten Bewohnern auf.”
Eine schlechte Nachricht muss Ingrid Gottschlag ihren Auftraggebern aber am Ende auch noch überbringen: “Ich habe es auch den Bewohnern im Ambulant Betreuten Wohnen schon verraten: Ende des Jahres werde ich aufhören – und mache Platz für eine junge Kollegin, die gerade angelernt wird. Ich überlege mir noch, was ich danach gern machen möchte.” (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 181 (4/2021).
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