Havelland: Wie Silvia Passow zu einer Rehkitzretterin wurde!
Nachts, wenn alles schläft, sind wir auf den Wiesen im Land unterwegs. Unsere Mission: Rehkitze vor dem Tod im Mähwerk der Landwirte retten. Unsere Ausrüstung: Fliegende Drohnen mit Wärmebildkamera, Kisten, Gummistiefel und viel Enthusiasmus. Wir suchen und sichern die Tierkinder vor der Mahd und lassen sie anschließend wieder frei. Die Mission war erfolgreich, wenn Mutter und Kind wieder zueinanderfinden.
Stockdunkel war es um 3:30 Uhr auf der Wiese bei Wustermark. Über Funk erklärte mir der Drohnenpilot Frank Neumann, in welche Richtung ich laufen sollte. Langsam, ein Fuß vor den anderen setzend, suchte ich mir meinen Weg durch die Wiese. Das Gras war nass, richtig nass, und es reichte mir bis ans Kinn. Frösche quakten, ein Fasan krächzte, sein Ruf erinnert an eine alte Fahrradtröte. Dann hieß es plötzlich: Stopp! Ich sollte den Arm ausstrecken und mich langsam in die angegebene Richtung drehen. “Und nun schau mal unter deine Hand”, flüsterte Frank Neumanns Stimme über Funk.
Gut gesagt. Um mich herum war nur Gras und die finstere Nacht. Ich wischte mit den Armen das Gras zur Seite, ging dabei langsam in die Hocke, immer weiter. Und dann, ganz unten, drückte sich dieses kleine, braune Bündel ganz fest in den Boden. Vorsichtig umfasste ich das Tierchen, mit viel Gras an den behandschuhten Händen. Hob es auf und setzte es in den Korb. Ein Blick in diese riesigen unschuldigen Augen und es war um mich geschehen. Mein erster Einsatz bei der “Rehkitzrettung Brandenburg” war rein beruflicher Natur. Ich wollte eine Reportage schreiben, über die neue Methode, wie Wildtiere mit Hilfe der Drohne vor den scharfen Messern der Mahd gerettet werden können. Doch dieser Blick aus Kitzaugen ließ mich nicht mehr los. Seitdem bin ich ehrenamtliche Rehkitzretterin.
Wiesen sind ein vielfältiger Lebensraum. Vögel, sogenannte Bodenbrüter, leben hier. Füchse streifen auf der Suche nach einem Leckerbissen durchs hohe Gras. Hasen, Mäuse und eine Vielzahl von Insekten haben hier ihre Heimat.
Rehmütter, die Ricken, verstecken im hohen Gras ihre Kitze, während sie selbst fressen gehen. Um dieses Versteck nicht zu verraten, kommen sie nur zum Säugen und zum Putzen der Kleinen zurück. Rehkitze haben in den ersten Lebenstagen keinen Fluchtinstinkt. Bei Gefahr drücken sie sich einfach nur tief in den Boden. In dieser Zeit haben sie auch keinen Eigengeruch, Fuchs und Hund können sie deswegen nicht wittern.
Wiesen sind nicht nur eine Kinderstube, sie sind auch Futter für Schafe, Rinder und Pferde. Deswegen wird das Gras vom Landwirt gemäht – und manchmal gleich nach dem Mähen luftdicht verpackt. Befindet sich dann ein Kadaver im gemähten Gras, kann dies zu Botulismus führen – anaerobe Bakterien entwickeln sich und geben Gifte frei. Das ist für Kühe oder Pferde tödlich. Für die Ricke kann der Verlust des Kitzes mit Milchfieber enden.
Neben der Mahd sind auch Hunde ein Risiko für Kitze. Wir erleben leider jedes Jahr aufs Neue, dass ein Hund über ein Kitz stolpert, zum Nachteil für das Kitz. Die Mutter nimmt es wegen des fremden Geruchs nicht mehr an oder der Hund verletzt das Kitz. Wer ein Rehkitz findet: Bitte nicht anfassen. Als einzige Ausnahme gilt das: Das Kitz ist in Not, sichtbar verletzt oder es ruft über einen längeren Zeitraum nach der Mutter. Im Zweifel kann man die “Rehkitzrettung Brandenburg” anrufen, die Telefonnummer ist die 01575-3708008.
Zurück zur Mahd. Niemand kann sagen, wie viele Wildtiere dem Mähwerk jährlich zum Opfer fallen. Die Deutsche Wildtier Stiftung geht von jährlich 50.000 bis 100.000 von der Mahd betroffenen Rehkitzen aus.
Dabei muss erwähnt werden, dass der Fahrer eines Traktors nur selten die Chance hat, rechtzeitig zu bremsen. Die Kitze sind gut versteckt und moderne Landmaschinen sehr schnell und sehr groß.
Die Landwirte stehen aber in der Pflicht, sie müssen inzwischen die Wiesen absuchen lassen, damit kein Wirbeltier grundlos verletzt wird. Dafür sollte er sich an den zuständigen Jäger wenden und gern auch an uns. Auch während unserer Einsätze sind Jäger zugegen. Denn Wildtiere dürfen nicht einfach aus der Natur entfernt werden. Bevor es die Drohnen gab, wurden die Wiesen übrigens von mehreren Personen abgelaufen.
Die Wiesen ablaufen, so fing auch Marina Stolle aus Seeburg mit ihrem Herzensprojekt an. Marina Stolle ist die Gründerin der “Rehkitzrettung Brandenburg”. Vor zwölf Jahre hörte sie im Autoradio einen Bericht über Rehkitze, die bei der Mahd qualvoll sterben. Ein Beitrag mit Folgen, denn nun schaute Marina Stolle auf den abgemähten Wiesen nach Rehen. Sie brauchte nicht lange, bis sie eine Ricke sah. Sie stieg aus und entdeckte das schrecklich zugerichtete Kitz. Sofort war ihr klar, so etwas muss verhindert werden.
Wieder zu Hause berichtete sie ihrem Lebenspartner, Frank Neumann, von ihrem Erlebnis. Sie suchte Kontakt zu Landwirten und fand einen, der fand die Idee zwar befremdlich, ließ das Paar aber seine Wiesen absuchen. Zu Fuß, in der Sommerhitze. Für Frank Neumann war schnell klar, so geht das nicht, Technik muss her. Während Marina Stolle sich rund um das Thema Rehe ausbilden ließ, schaffte Frank Neumann die Drohne mit Wärmebildkamera an. Es ist die Wärmebildkamera, die die Suche erfolgreich macht. Dazu muss ein möglichst großer Temperaturunterschied zwischen der Luft- und der Körpertemperatur des Kitzes liegen. Deshalb finden die Einsätze in den frühen Morgenstunden statt. Die Mahd sollte direkt im Anschluss erfolgen. Von der Absuche mit der Drohne profitieren nicht nur die Kitze, auch Gelege von Bodenbrütern werden entdeckt und abgesteckt. Die Absuche erfolgt ehrenamtlich und kostet die Landwirte nichts, Spenden werden natürlich gern angenommen.
2021 folgte schließlich die Vereinsgründung, der “Rehkitzrettung Brandenburg e.V.” (www.rehkitzrettung-brandenburg.com) war geboren. Inzwischen hat der Verein rund 60 Mitglieder und 400 Helfer. Letztere sind keine Vereinsmitglieder, unterstützen aber bei der Kitz-Sicherung von Mai bis Mitte Juli. Wir bilden unsere Helferteams selbst aus, denn die Ricke nimmt ihr Kitz nur dann wieder zurück, wenn sie es erkennt.
Inzwischen kenne ich gefühlt fast jede Wiese im Osthavelland. In diesem Jahr war mein erster Einsatz wieder in Wustermark. Zwei Kitze, Zwillinge, nicht mal eine Woche alt, konnten wir sichern. Am Abend beobachteten wir die Ricke, als sie von den Kitzen kam. Sie schaute zu uns hinüber. Ein warmes, weiches Gefühl von größtem Glück legte sich um mein Herz. Es ist ein besonderes Geschenk, so etwas erleben zu dürfen. (Text/Fotos: Silvia Passow)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 232 (7/2025).
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