Unser Havelland und EDEKA Dorfmann Zukunftsmarkt Video-Podcast (6): Im Gespräch mit Ronald Rauhe

“Unser Havelland” startet ein neues Format. Einmal im Monat laden wir uns eine interessante Person aus dem Havelland ein, um ein halbstündiges Gespräch mit vorbereiteten Fragen zu führen. So können wir ein Interview präsentieren, das bewusst den Rahmen sprengt und ein wenig mehr in die Tiefe geht. Im Juni war nun der mehrfache Olympia-Sieger Ronald Rauhe aus Falkensee bei uns zu Gast.
Das Interview wird gekürzt und gestrafft auf vier Seiten im Magazin abgedruckt und auf die Homepage gestellt. Zugleich nehmen wir es aber auch auf Video auf, das Sie auf unserem YouTube-Kanal (www.youtube.com/UnserHavelland) abrufen können. Bei der Erstellung des Videos hilft uns Marvin Zinke aus Brandenburg an der Havel.
Unser Interview findet immer vor Live-Publikum statt und zwar in der “Überschaubar” im neuen EDEKA Zukunftsmarkt in Nauen (www.zukunftsmarkt-dorfmann.de) von Christian Dorfmann – das ist zurzeit der nachhaltigste EDEKA-Markt in ganz Deutschland. Christian Dorfmann war sofort bereit, unserem neuen YouTube-Podcast eine feste Heimat zu geben.
Der erste Gast für die neue Interview-Reihe war Christian Lohse, der 2-Sterne-Koch, der in Falkensee lebt. Für die Fortsetzung haben wir Robert Dahl eingeladen, den Inhaber von Karls Erlebnis-Dorf in Elstal. Im Februar war Birgit Faber bei uns, sie ist der Geschäftsführende Vorstand vom “Turn und Sportverein Falkensee e.V.”. Im März sprachen wir mit Olaf Höhn, dem Geschäftsführer von Florida Eis (www.floridaeis.de) aus Spandau. Im April war Thilo Spychalski da, der Geschäftsführer der Havelland Kliniken Unternehmensgruppe.
In diesem Monat besuchte uns Ronald Rauhe aus Falkensee, Olympia-Sieger im Kajakfahren, mit seinen fünf Olympia-Medaillen.
Lieber Ronald Rauhe, du bist einer der erfolgreichsten Olympia-Teilnehmer, die Deutschland jemals hervorgebracht hat. Zweimal Bronze, einmal Silber, zweimal Gold: Fünf Medaillen sind es am Ende geworden. Du bist ein Kanute. Bist du damit ein – Ruderer?
Ronald Rauhe: “Das ist eine ganz gefährliche Frage. Man sagt zu einem Kanuten niemals Ruderer. Kanu ist in meinem Sport der Überbegriff, zu dem untergeordnet verschiedene Disziplinen gehören. Kajak ist das, was ich gemacht habe. Hier sitzt man im Kajak und taucht das Paddel auf beiden Seiten ins Wasser. Eine weitere Kanu-Disziplin wäre der Kanadier. Hier knien die Paddler im Boot und fahren nur auf einer Seite. Rudern ist etwas anderes.”
Wo kommst du eigentlich her, wo bist du aufgewachsen und wie hat es dich am Ende nach Falkensee verschlagen?
Ronald Rauhe: “Tatsächlich bin ich in Berlin aufgewachsen. Ich wurde im Waldkrankenhaus geboren und bin in Spandau auch großgeworden. Eines Tages habe ich eine Radtour durch Falkensee gemacht und dabei ein schönes Grundstück gesehen, in das ich mich direkt verliebt habe. Das habe ich gekauft. Nun leben wir schon seit 2003 in Falkensee und wir würden unser Haus auch nicht mehr hergeben.”
Du hast ja schon in der Schulzeit damit begonnen, Sport zu treiben. Wie kommt man ausgerechnet in Spandau auf die Idee, als Schüler in ein Kajak zu steigen und Kanute zu werden?
Ronald Rauhe: “Der Gedanke liegt gar nicht so fern. Denn Spandau hat natürlich extrem viel Wasser. Wir haben viele Kanu-Vereine in Spandau. Meine Eltern sind selbst bei den Kanuten gewesen. Ich bin sozusagen in ihrem Verein großgeworden.
Ich habe aber auch ganz viele andere Sportarten ausprobiert, so etwa auch Fußball, Eishockey und die Leichtathletik.
Beim Kanu-Sport war schön, dass wir im Verein nicht nur die Boote hatten, sondern immer auch ein Gelände direkt am Wasser. Es ging eben nicht nur darum, Sport zu treiben, sondern auch darum, gemeinsam Zeit zu verbringen und das soziale Miteinander zu fördern. Es gab im Verein immer Kinder, die direkt am Wasser großgeworden sind. An dieses Aufwachsen im Verein denke ich gern zurück. Letztlich bin ich auch deswegen beim Kanu-Sport geblieben.”
Der Verein ist ja nicht das ganze Leben, man muss ja auch in die Schule gehen. Wie war der Alltag in der Schule für dich, wenn du doch einen großen Teil deiner Zeit dem Leistungssport widmen musstest?
Ronald Rauhe: “Tja, das war teilweise nicht besonders einfach damals. Ich habe das Gymnasium in der Siemensstadt besucht und zwar zu einer Zeit, in der ich bereits sehr intensiv Sport betrieben habe. Ich war sehr oft im Trainingslager. Das hat bei mir relativ früh angefangen. Ich war bereits mit 14 Jahren das erste Mal für die Junior-Nationalmannschaft unterwegs.
Das hat man in der Schule nicht immer so ganz verstanden, warum ich so viel unterwegs war. Da waren teilweise Lehrer unterwegs, die haben das mit dem Sport so gar nicht nachvollziehen können. Ich musste immer viel Stoff nachholen und hatte damit auch durchaus meine Probleme, weil mir die Unterstützung durch die Schule fehlte – etwa durch mitgegebene Lernmaterialien. Mitunter wurde mir die Möglichkeit genommen, verschiedene Angebote wie etwa das eine oder andere Trainingslager mitzunehmen. So wurden mir Wege verbaut und ich habe viel einstecken müssen. Am Ende bin ich aufgrund der fehlenden Unterstützung sogar sitzengeblieben.
Die Konsequenz war: Ich habe die Schule gewechselt. Das war eine gute Entscheidung. Von da an hatte ich ein gutes Schulleben. Ich wurde von der neuen Schule unterstützt – und mir wurde die Möglichkeit gegeben, aus der Ferne zu lernen. Mir wurde einfach das Material für den Unterricht mitgegeben und ich konnte mir das Lernen im Trainingslager selbst einteilen. Wenn ich dann zurückgekommen bin, konnte ich die anstehenden Klausuren mitschreiben wie alle anderen Schüler auch. Oder ich bekam die Möglichkeit, die nachzuschreiben.
Das war damals die Heinrich-Böll-Oberschule in Spandau. Aufgrund dessen, dass mich die Schule so intensiv bei meinem Sport begleitet hat und das für beide Seiten sehr interessant und lohnend war, ist die Heinrich-Böll inzwischen eine ‘sportbetonte’ Schule. Die Schule hat erkannt, dass der Sport mehr bietet als vielleicht nur Medaillen, die man ausstellen kann. Es geht darum, das Miteinander zu fördern und Werte zu leben, die der Sport mit sich bringt.”
Wenn man all seine Zeit in den Leistungssport investiert und hier vorhat, zu den Allerbesten zu gehören, dann bleibt wenig Raum für einen normalen Beruf, der das Geld verdient. Deutschland bietet seinen Leistungssportlern, die Mitglied in einer Nationalmannschaft in einer olympischen Sportart sind, an, Sportsoldat zu werden, um auf diese Weise abgesichert zu sein. War das bei dir auch so?
Ronald Rauhe: “Ganz genau. Es gibt verschiedene Bundesbehörden, die als Förderer des Sports auftreten. Das ist die Bundespolizei, die Feuerwehr, die Landespolizei, der Zoll und am Ende die Bundeswehr als größter Förderer in Deutschland.
Die Bundeswehr war auch mein Förderer, ich habe 20 Jahre lang als Sportsoldat Sport betrieben. Die Bundeswehr war die Basis dafür, dass ich meinen Sport in dieser Intensität ausüben konnte. Ohne diese Grundförderung wäre es mir gar nicht möglich gewesen, mich so auf den Sport zu fokussieren.
Ich bin jetzt übrigens immer noch Soldat. Ich habe die tolle Möglichkeit bekommen, bei der Bundeswehr zu bleiben. Ich habe nach meiner aktiven Sportlaufbahn nur die Seiten gewechselt. Ich entwickele nun die Sportförderung in Deutschland weiter und betreue ein Mentoring-Programm für junge Athleten, die als Sportsoldaten neu zur Bundeswehr kommen. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich mit 43 Jahren noch immer ein Teil dieses Bundeswehr-Kosmos bleiben darf.”
Du hast bei den Olympischen Spielen fünf Medaillen für Deutschland geholt, darunter zwei in Gold. Nun ist es so, dass ihr in Deutschland besondere Bedingungen habt. Ihr tretet in einem Boot an, das extra für euch gebaut wurde. Und ihr konntet in einer topmodernen Gegenstromanlage in Potsdam üben, die sicherlich nicht jedes Land zur Verfügung hat. Hat man da bei Olympia nicht einen großen Vorteil gegenüber anderen Ländern?
Ronald Rauhe: “Es gehört zur Wahrheit, dass man natürlich schon versucht, sich einen gewissen Vorteil zu erarbeiten. Das ist nicht nur bei uns so, das ist auch bei den anderen Ländern so. Es gibt genügend Beispiele, wo andere Länder in verschiedenen Sportarten einfach deutlich mehr Expertise haben als wir Deutschen.
Du hast unseren Strömungskanal in Potsdam angesprochen. Der stammt noch aus alten DDR-Zeiten, da wurde viel Geld und Material in den Leistungssport investiert. Dieser Strömungskanal mit Gegenstromanlage, in dem man mit einem Kajak fahren konnte und dabei umfassend analysiert wurde, den gab es damals nur einmal auf der ganzen Welt, nämlich bei uns. Inzwischen haben den auch andere Länder.
Der Punkt ist: Bleibt man stehen und entwickelt sich nicht weiter, wird man von den anderen Ländern überholt. Bei der Gegenstromanlage hatten wir einen Zeitvorsprung. Aber das ist nun bereits wieder vorbei.
Ein zweiter Vorteil sind natürlich unsere Boote, die von der FES extra für uns gebaut werden und die auf ihre Art einzigartig sind. Die FES baut für unsere Athleten auch die Bobs und die Fahrräder. Es ist schon ein Vorteil, dass wir ein Institut haben, das unser Material ganz individuell an unseren Sport und an unsere Sportler anpasst. Aber das gibt es eben auch in anderen Ländern.
Man muss noch einen anderen Gedanken aufnehmen. Der Olympische Sport lebt ja von dem Gedanken, dass sich eine Vielzahl an Nationen an diesen Wettbewerben beteiligt. Man hat also nur dann eine Daseinsberechtigung als Disziplin im Olympischen Sport, wenn man viele Nationen an diesem Event teilhaben lässt. So kommt es immer wieder dazu, dass Trainer aus den besserstehenden Nationen quasi in die Entwicklungsländer geschickt werden, um das erworbene Know-how dort weiterzugeben. So wurden etwa gezielt deutsche Trainer nach Afrika entsendet, um dort junge Trainer auszubilden.”
Wenn man hochsensibles und auf einen persönlich abgestimmtes Equipment verwendet, dann kann das auch einmal zu einem Bumerang werden, oder? Etwa, wenn dieses Equipment auf dem Weg zu den Olympischen Spielen plötzlich zerstört wird.
Ronald Rauhe: “Ich weiß, worauf du anspielst. Das waren die Olympischen Spiele in Tokio. Hier ist sozusagen ein Worst-Case-Szenario wahrgeworden, dass so tatsächlich vorher noch nie passiert ist.
Wir haben an unserem Kajak für die Spiele in Tokio satte vier Jahre lang gearbeitet und es zusammen mit der FES immer wieder optimiert. Als das Boot dann aber am Flughafen in das Flugzeug nach Japan hineingehoben werden sollte, hat der Gabelstaplerfahrer das Boot nicht behutsam angehoben, sondern es förmlich aufgespießt.
Die Krux ist natürlich: Wenn es um Maßanfertigungen geht, dann gibt es natürlich nicht viele Kopien davon. In unserem Fall gab es genau eine Kopie vom Kajak. Diese Kopie sollte uns das Training noch in Deutschland ermöglichen, während das Original auf dem Weg nach Tokio war. Wir mussten dieses Ersatzboot in einer Nacht- und Nebelaktion von Duisburg aus über Nacht zum Flughafen bringen, um den allerletzten Flieger zu erwischen, der vor den Spielen noch nach Tokio aufbricht. Wir haben sogar noch eine 12 Meter lange Holzkiste gebaut, um das Boot zusätzlich zu schützen. Es ist heil angekommen. Das war nervlich so direkt vor den Spielen eine riesige Herausforderung für uns als Team.”
Apropos Nerven. Wenn man im Leistungssport unterwegs ist: Wie funktioniert das ganze Auswahlverfahren, bis man als festes Teammitglied zu den Olympischen Spielen fliegen kann?
Ronald Rauhe: “Wir sprechen hier von einem ganz transparenten Nominierungsprozess. Zumindest ist das bei uns Kanuten so. Bei uns gibt es immer im Frühjahr – egal, ob es ein Olympia- oder ein WM-Jahr ist – eine Nominierungsveranstaltung. Das sind zwei Sichtungsregatten mit etwa zwei Wochen Abstand. Hier muss man seine individuelle Leistung unter Beweis stellen.
Im Olympia-Jahr muss man dabei wenigstens unter die ersten Acht kommen, damit man überhaupt eine Chance hat, in den engeren Kreis zu gelangen. Wenn man natürlich schon Erfolge vorweisen kann, gibt es einen kleinen Bonus. Letztlich muss man seine Leistung aber immer wieder neu und auch bis zum Schluss kontinuierlich unter Beweis stellen. Wir haben immer zwei Ersatzmänner mit dabei. Falls ein Athlet plötzlich komplett aus der Rolle fällt oder die Leistung aus welchem Grund auch immer abfällt, dann ist es wichtig und auch richtig, dass dieser Sportler ersetzt werden kann.
Dieser Druck und dieser Konkurrenzkampf machen es aber auch aus. Das ist die Grundlage dafür, dass man sein Top-Niveau hält. Man kann sich eben nicht zurücklehnen und muss sich jeden Tag neu herausfordern.”
Muss man für den Leistungssport über viele Jahre hinweg auf alle sonstigen Freuden des Lebens verzichten? Ein spontaner Trip mit der Familie übers Wochenende oder ein alkohollastiger Abend mit den Freunden ist da sicherlich nicht drin, oder?
Ronald Rauhe: “Man muss immer versuchen, das Gleichgewicht zu finden. Ich bin vielleicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt auf die eine oder andere Feier gegangen, habe dann aber auf Alkohol verzichtet. Man muss nicht auf alles verzichten, aber man sollte mit Augenmaß unterwegs sein. Das ist die Botschaft, die ich hier jungen Sportlern mit auf den Weg geben möchte.
In der Familie ist Kommunikation ganz besonders wichtig. Man sollte sich im Vorfeld klar sein, welche Ziele man verfolgt, welche Kompromisse möglich sind und welche Linie nicht übertreten werden soll. Wenn das geklärt ist, kommt es erst gar nicht zu großen Problemen.”
Die Olympischen Spiele. Wie war das bei dir? Wer gibt bei einem Rennen die Taktik vor? Hat man unterwegs noch einen Seitenblick für die Gegner?
Ronald Rauhe: “Als einer von ganz wenigen Athleten in Deutschland habe ich alle nur möglichen Disziplinen im Kajak bei den Olympischen Spielen absolviert. Ich war mit dem Einer unterwegs, saß im Zweier und bin am Ende im Vierer gefahren. Gerade der Vierer ist eine besondere Herausforderung. Da sitzen vier Athleten, die unter extremen Druck stehen, gemeinsam in einem Boot.
Dabei gibt es ja nicht nur den Druck von innen, sondern auch den von außen. Bei uns war es so, dass wir drei Jahre in Folge Weltmeister waren. Da wird natürlich viel Druck dahingehend aufgebaut, dass wir auch beim nächsten Mal Weltmeister werden sollen.
Für mich war in Hinblick auf die Olympischen Spiele in Tokio eine besondere Strategie hilfreich. Ich habe mir das Rennen schon ein Jahr vorher Tag für Tag vorgestellt und im Kopf durchgespielt. Wenn du diese Bilder Tag für Tag immer aufs Neue abspulst, dann hast du, wenn der Moment kommt, eine ganz andere Akzeptanz dafür. Der Stress war dann für mich gar nicht mehr so präsent.
Beim Olympia-Finale in Tokio wusste ich, das ist nicht nur irgendein olympisches Rennen, sondern das ist das letzte Rennen meiner ganzen Karriere. Wenn ich diese letzte Ziellinie überquere, dann war es das. Diese Vorstellung hat mir komischerweise sehr geholfen, ich war vor dem Rennen extrem ruhig, tatsächlich so ruhig wie noch nie zuvor.
Wenn dann das Rennen losgeht, hat man natürlich einen Race-Plan vor Augen. Der geht aber nicht immer auf. Man hat zwar vier Jahre lang Daten gesammelt, wissenschaftliche Studien durchgeführt und andere Rennen analysiert. Aber beim Rennen können trotzdem komische Dinge passieren. Was machen die Gegner, wie reagieren wir darauf? Natürlich sehen wir, was drei Bahnen weiter passiert, das muss man alles im Blick haben.
Bei meinem letzten Rennen war ich der Älteste an Bord. Es wäre mein Job gewesen, Anpassungen am Race-Plan vorzunehmen, so sie denn nötig werden. Ich sage dann an, wie lange der Start geht, wie das Mittelstück aussehen soll und wie der finale Spurt durchgeführt wird. In diesem Fall verlief aber alles nach Plan und wir gingen als Erste über die Ziellinie.
Da löst sich sofort eine irre Spannung. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich diesen Moment in Tokio in einer Aufzeichnung sehe, weil ich genau weiß, was in diesem Moment für ein Druck von mir abgefallen ist.”
Bei den Olympischen Spielen kommen Athleten aus vielen Ländern im Olympischen Dorf zusammen. Hat man da auch die Zeit, andere Sportler kennenzulernen?
Ronald Rauhe: “Das ist ja das Einzigartige bei den Olympischen Spielen, dass man gerade auch Menschen kennenlernt, die nicht aus der eigenen Sportart kommen. Das ist bei der Europa- oder Weltmeisterschaft ganz anders.
Ich habe 2004 so eine schöne Begegnung gehabt. Ich komme abends aus dem Training und gehe in die Mensa im Olympischen Dorf, um in Ruhe noch etwas zu essen. Die Mensa war riesengroß, aber an diesem Tag sehr, sehr voll. Ich habe mich dann in eine Ecke gesetzt. Und da hat sich auf einmal der amerikanische Schwimmer Michael Phelps mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Ich kannte ihn nur aus den Medien. Er war ein Riesenidol für mich. Aber es war eine besondere Situation und ich kam ganz locker mit ihm ins Gespräch. Das war ein Gespräch ganz auf Augenhöhe. Wir hatten die gleichen Ziele, die gleichen Werte und die gleiche Vorstellung vom Sport. Das war so ein besonderer Moment, in dem ich gemerkt habe: Das macht die Olympischen Spielen aus. Deswegen ist für mich das Olympische Dorf auch der Inbegriff der Olympischen Spiele.
Im übrigen sind wir in diesem Jahr beide als Olympiasieger nach Hause gefahren.”
Du hast viele Jahre lang extremen Leistungssport betrieben. Was sagt heute eigentlich dein Körper zu den Strapazen? Oder dein Arzt?
Ronald Rauhe: “Ich habe das Glück, dass ich weiterhin von den Ärzten betreut werde, die auch während meiner aktiven Sportlaufbahn für mich da waren. Mein Arzt sitzt in Potsdam, es ist unser alter Mannschaftsarzt und wir haben auch heute noch ein gutes Vertrauensverhältnis.
In der Tat ist es aber so, dass ich nach 25 Jahren Leistungssport an der einen oder anderen Stelle deutlich merke, was ich meinem Körper zugemutet habe. Wo tut es am meisten weh? Das sind bei mir die Schultern, hier habe ich auch gerade eine Operation gehabt.
Das hat übrigens gar nicht unbedingt etwas direkt mit dem Kanufahren zu tun. Die Schulterbeschwerden sind eher der Tatsache zuzuschreiben, dass ich in einer Sportart unterwegs war, in der wir schnell sehr viel Masse beschleunigen müssen. Wir verbringen deswegen viel Zeit im Kraftraum und müssen dabei hohe Gewichte bewegen. Das hat über die Jahre zu einem gewissen Verschleiß geführt.”
Betreibst du auch heute noch Sport?
Ronald Rauhe: “Ich bin zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Die wenigsten wissen, dass ich im Kanu-Polo-Sport großgeworden bin. Das ist ein bisschen wie Wasserball in Booten. Ich habe mich damals nur für den Kanu-Rennsport entschieden, weil ich bei den Olympischen Spielen mitmachen wollte.
Jetzt bin ich zu meinem Verein in Spandau zurückgekehrt und spiele tatsächlich wieder Kanu-Polo – und zwar mit meinen alten Jungs von früher. Wir treten sogar in der Bundesliga an. Das bringt nun wieder einen großen Trainingsaufwand mit sich. Aber wie gesagt, wegen meiner Schulter bin ich momentan außer Gefecht gesetzt.
Aber ich brauche auf jeden Fall die Bewegung, damit geht es mir besser, das fehlt mir sonst. Ich gehe auch mal Fußball spielen. Ich genieße die Möglichkeit, viele Dinge tun zu können, die ich in meiner aktiven Sportlaufbahn aufgrund des Verletzungsrisikos lieber gemieden habe.”
Verletzungsrisiko ist ein gutes Stichwort. Du hast dir in einem Rennen einmal einen Muskel abgerissen?
Ronald Rauhe: “Ja, das stimmt. Zunächst muss man sagen, dass Kajakfahren zum Glück keine Kontaktsportart ist. Wir haben es demnach nur selten mit Verletzungen zu tun. Bei einem großen Wettbewerb sind wir aber trotzdem am absoluten Limit, was unsere muskuläre Belastung betrifft.
Bei meiner Verletzung war es so, dass ich ein 200-Meter-Rennen gefahren bin. Das ist die kürzeste Disziplin, die wir haben. Da heißt es 34 Sekunden lang All-In. In dieser Situation muss man alles ins Wasser bringen, was man sich vorher an Kraft antrainiert hat. Das habe ich getan.
Es gab aber ungünstige Bedingungen an diesem Tag – Wind und Wellen. Ich war in voller Fahrt und habe plötzlich eine Welle so blöd abbekommen, dass ich im Schlag bereits am Limit war und durch die Welle dann noch einen zusätzlichen Impuls mitbekommen habe. Und da ist mir der Bauchmuskel abgerissen.
Das ist sehr uncool, weil es dauert sehr lange, bis das heilt. Noch dazu spürt man das bei jeder Bewegung. Das war aber glücklicherweise eine der wenigen Verletzungen, die ich hatte.
Ich bin tatsächlich noch als Zweiter ins Ziel gekommen, habe das Rennen also noch durchgebracht. Im Ziel bin ich fast zusammengebrochen, weil ich da erst so richtig wahrgenommen habe, dass gerade etwas Schlimmes passiert ist.”
Inzwischen hast du ein Buch geschrieben: “In einem Boot”. Da erzählst du aus deinem sportlichen Leben, bringst aber auch die Botschaft mit, dass es nicht verkehrt ist, im Sport wieder auf Leistung zu setzen.
Ronald Rauhe: “Vor allen Dingen vermittelt das Buch die Botschaft, was uns der Sport alles gibt und wie wichtig er für unsere Gesellschaft ist.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein Buch schreibe. Es ist tatsächlich aus einem Impuls heraus entstanden. Es ist auch keine Biografie, wie andere Sportler sie schreiben. Meine Geschichte ist nur der rote Faden im Buch. Ich nutze meine Biografie nur, um auf viele Dinge aufmerksam zu machen, die den Sport an und für sich betreffen und die in unserer Gesellschaft sehr wichtig sind.
Ich denke, es ist wichtig, wieder zu lernen, dass Leistung nicht per se etwas Negatives ist. Wir müssen unseren Kindern wieder mehr Mut machen, sich anzustrengen und auf ein Ziel zuzuarbeiten. Zugleich ist auch der Umgang mit Niederlagen sehr wichtig. Niederlagen sind okay. Ohne sie sammeln wir keine Erfahrungen und können uns nicht verbessern. Nur wenn ich scheitere, habe ich auch ein Entwicklungspotenzial. Das bedeutet, dass ich mich selbst gar nicht weiterentwickele, wenn ich immer nur den sicheren Weg einschlage und kein Risiko eingehe. Das ist nicht nur im Sport so, sondern im ganzen Leben.
Dazu gehört übrigens auch Ehrlichkeit. Wenn jedes Kind bei einem Wettbewerb die gleiche Medaille bekommt, ob es nun erster oder letzter war, dann vermittelt das in meinen Augen keine gute Botschaft. Das ist einfach nicht ehrlich. Und dann fragt sich auch das erstplatzierte Kind: Warum habe ich mich denn jetzt so angestrengt, wenn der Letzte die gleiche Medaille bekommt wie ich? Wie soll denn ein Kind oder ein Erwachsener erkennen, worin er gut oder schlecht ist, wenn es dazu überhaupt gar kein Feedback mehr gibt?”
Sollten wir denn dann nicht wieder mehr Geld in die Hand nehmen, um den Spitzensport zu fördern? Damit es bei den Olympischen Spielen wieder mehr deutsche Medaillen gibt?
Ronald Rauhe: “Absolut. Natürlich bin ich dafür. Der Leistungssport ist ganz, ganz wichtig, damit wir wieder mehr Medaillen bei den Olympischen Spielen gewinnen.
Vor allem ist es wichtig, dass aus diesen Erfolgen neue Vorbilder entstehen, die nicht nur für den Sport, sondern für die ganze Gesellschaft sehr wichtig sind.
Wichtig ist auch, dass Sport wieder ein Teil vom Alltag wird. Sport fördert nicht nur die eigene Gesundheit, sondern hilft auch dabei, Werte zu vermitteln, die wir in unserer Gesellschaft dringend brauchen. Ich kriege immer einen Hals, wenn ich höre, dass es bei der aktuellen politischen Situation in der Welt Wichtigeres gibt, um das man sich gerade kümmern muss, als um den Sport. Aber genau jetzt ist es eben doch wichtig, den Sport zu fördern, weil er die Werte hervorbringt, die wir brauchen, um wieder eine starke Gesellschaft zu werden.
Wir sehen das doch tagtäglich. Kommen Kinder zusammen, die nicht die gleiche Sprache sprechen, braucht man nur einen Ball in ihre Mitte zu werfen, und schon sind die eins. Die verstehen sich, die wissen, was sie wollen, die haben die gleichen Ziele. Das funktioniert aber nur, wenn man den Sport als Teil des Gesamten sieht. Darum geht es in meinem Buch.”
Deine Frau Fanny Fischer ist ja selbst Kanutin und auch Olympiasiegerin. Redet man da zu Hause nur noch über das Kanufahren?
Ronald Rauhe: “Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Wir wussten ja immer, wie so ein Trainingsalltag aussieht. Zuhause hat man den Tag mit wenigen Sätzen abgehakt. Auf einmal hatte man viel mehr Zeit, sich in der Freizeit über andere Dinge zu unterhalten.”
Ihr habt zwei Söhne, sind die auch schon sportlich aktiv?
Ronald Rauhe: “Ja, die sind bereits sportlich unterwegs. Der Große spielt Fußball, der Kleine Handball. Als Familie ist es uns wichtig, dass sich die Kinder für irgendeinen Sport begeistern können. Und auch, dass sie Teil einer Mannschaft sind, wie das jetzt der Fall ist. Damit sie lernen, wie man sich in einer Mannschaft bewegt, wie man sich im Team einbringen kann und wann es auch nötig wird, sich selbst zurückzunehmen. Wir hegen da keine Ansprüche – sie sollen das machen, was ihnen Spaß macht. Und das fördern wir dann auch gern.”
Du warst ja bei den Olympischen Spielen in Paris. Das waren Spiele mitten in der Stadt. Würde uns das in Berlin nicht auch gut stehen?
Ronald Rauhe: “Das ist eines meiner Lieblingsthemen, für die ich gerade brenne. Paris ist einfach eine Initialzündung gewesen. Es waren auch die ersten Spiele nach einer neuen Charta des IOC. Man hat ja gesehen, dass die Olympischen Spiele nicht mehr nur in den Stadien stattfinden müssen. Man kann auch rausgehen zu den Menschen – und erzeugt so eine ganz andere Stimmung. Außerdem muss man so nicht mehr Millionen und Milliarden in die Hand nehmen, um neue Stadien aufzubauen. In Berlin könnte man eine temporäre Sportstätte etwa vor dem Brandenburger Tor aufbauen. Man integriert so den Charakter einer Stadt in die Olympischen Spiele, schafft mehr Nähe und sorgt für eine tolle Atmosphäre.
Spiele wie in Paris können wir auch in Deutschland umsetzen. Berlin wäre wie kein anderer Ort im Land prädestiniert dafür, die Atmosphäre zu erzeugen, die wir auch in Paris erlebt haben. Berlin will sich ja für die Spiele bewerben, der Berliner Senat wird das Konzept nun öffentlich machen. Ich drücke die Daumen.” (CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 231 (6/2025).
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