Kristina Hölzel: Regionale Geschichte (4): Die runde Ecke

Falkensee wurde 1928 größte Landgemeinde Europas. Der Wandel von feudalen Besitzstrukturen zu relativ kleinteiligen Eigentumsverhältnissen war zu diesem Zeitpunkt in der Stadt fast vollzogen. 1924 zählte man rund 4.540 Einwohner, 15 Jahre später dank Eingemeindungen und dem Zustrom von Neu-Falkenseern schon fast 20.000.
Die runde Ecke, auf dem Foto oben von 1997 rechts zu sehen, ist das prägnante Wohn- und Geschäftshaus in der Bahnhofstraße Nr. 82. Es ist seit fast neunzig Jahren Zeitzeuge der Stadtentwicklung.
Seine “Geburt” im Jahr 1936 war jedoch schwierig. So eine Ecke mitten in der Stadt zu bebauen, das sollte ein Statement sein.
Es verschwand die alte bäuerliche Kate mit Nebengelassen am ursprünglichen Weg nach Dallgow stehend. Die Umsetzung verschiedener Konzepte des Grundstückeigentümers, dem Gärtnereibesitzers B., hatte sich über einige Zeit hingezogen. Um nicht das Grundstück ungenutzt brach liegen zu lassen, wurde zunächst ein Blumen- und Sämereien-Verkaufspavillon errichtet.
Endlich fertig gebaut stand das neue Wohn- und Geschäftshaus seinem Gegenüber, der 1930 eingeweihten prächtigen Spar- und Kreditbank, in nichts nach. Sein massiver halbrunder über zwei Etagen gebauter Erker mit je einer Fensterreihe pro Etage steht für eine gewisse städtebauliche Einmaligkeit. Eine runde Ecke eben. Um die Front mit dem benachbarten 1905 errichteten Seegefelder Postgebäude wie aus einem Guss wirken zu lassen, wurde es nahezu nahtlos angebaut. Nichts lässt uns heute vermuten, dass es zwei verschiedene Gebäude sind.
Im Erdgeschoss bot es gleich zu Beginn Flaneuren einen guten Kaffee und ein Stück Torte an. Wer brauchte da noch Spandau?
Dann erlebte es 1945 Deutschlands Himmelfahrt, die Teilung, den Mauerbau 1961, Militärkolonnen, endlose Staus an den geschlossenen Bahnschranken. Seinen Feierabend-Käffchen konnte man jedoch immer noch hier trinken. Es jubelte den Friedensfahrern zu. Es beweinte ein verunglücktes Schulkind. Es erlebte nach Mangeljahren der Nachkriegszeit die kurze Blüte des DDR-Einzelhandels in den 60ern und 70ern. Zwei traurig heruntergelassene Schaufensterläden im Nebenhaus deuteten jedoch schon bald auf eine schlechtere Versorgungslage hin. Inzwischen zog die HO-Gaststätte “Zum Broiler” Hungrige an. Der Klassiker: Broiler außer Haus. Das ehemalige HO-Bekleidungsgeschäft im Nebenhaus trotzte nach 1989 dem sichtbaren Niedergang des Stadtzentrums. Die Laufkundschaft reichte aber bald nicht mehr. Schnell endete auch der Broiler-Gaststättenbetrieb. Alles keine blühenden Landschaften.
Wer kann sich noch an den Dreh “Totes Gleis” mit Ben Becker erinnern? Im Herbst 1993 nutzte das Produktionsteam vom Polizeiruf 110 den morbiden Charme des Hauses als Kulisse. Das wollte ich sehen: Ben Becker mit altem Motorradgespann!
Zu diesem Zeitpunkt residierte bereits eine Bankfiliale in der unteren Etage der runden Ecke. Nur manchmal erinnerte sich jemand spöttisch an die Bezeichnung „Witweneck“ für die in die Stadtgeschichte eingegangene Lokalität.
1996/97 erforderte der Ausbau der Hamburger Bahn zur ICE-Strecke im Stadtzentrum zwei Tunnelbauten. Auf dem Foto erkennen wir aber noch die ursprüngliche Straßenführung der Poststraße. Der Autoverkehr läuft seitdem durch den Tunnel Dallgower Straße, getrennt von Fußgängern und Radfahrenden. Die zur Volkshochschule und zum alten Güterbahnhof führende Poststraße ist seitdem von Zentrumsseite aus für Autos nicht befahrbar. Links sind die später abgerissenen kleineren Wohn- und Geschäftshäuser zu sehen. Nur das hintere Haus steht heute noch verlassen da. Es ist der Kontrapunkt zum Kreisverkehr. Der in der Mitte gründend wie ein Vorgarten der runde Ecke wirkt. (Foto: privat)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 228 (3/2025).
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