Zwei neue Stolpersteine in Falkensee-Finkenkrug verlegt: Stolpern im Herzen – für Familie Lipstein!

Wird er kommen? Am 11. Mai warteten um 10:30 Uhr morgens an die einhundert Falkenseer vor dem Einfamilienhaus in der Böcklinstraße 61 darauf, dass der aus Nauen stammende Künstler Gunter Demnig in seinem roten Auto um die Ecke biegt. Er wurde vor Ort erwartet, um zwei neue Stolpersteine in den Gehweg einzusetzen. Sie sollen fortan an das Schicksal das Familie Lipstein in den Zeiten der deutschen Nazi-Diktatur erinnern. Über 117.000 dieser Stolpersteine gibt es bereits in ganz Europa.
Zum Glück mussten die Falkenseer nicht lange warten. Nur mit wenigen Minuten Verspätung bog Gunter Demnig um die Ecke. Er war von Berlin aus unterwegs gewesen und steckte im Muttertags-Stau fest.
Da waren die knapp 15 Daueraktiven aus der “Vorbereitungsgruppe Stolpersteine in Falkensee und dem Osthavelland” aber erleichtert. Gunter Demnig, der zum Teil in Nauen aufgewachsen ist, ist nämlich der Initiator der Stolpersteine. Bei den Stolpersteinen handelt es sich um kleine Gehwegsteine mit einer quadratischen Kantenlänge von knapp zehn Zentimetern, die mit einer informativen Messingtafel versehen sind. Auf der Messingtafel liest man die Namen, das Geburts- und das Sterbedatum sowie – ganz kurz – die Leidensgeschichte von Menschen, die zwischen 1933 und ’45 zur Zeit der Nationalsozialisten unterdrückt, vertrieben, verschleppt und auch ermordet wurden. Die Stolpersteine werden stets vor der Wohnstätte in den Bürgersteig eingesetzt, die von den auf den Steinen verewigten Personen zuletzt freiwillig bewohnt wurden.
Stolpersteine sieht man auf seinen täglichen Wegen erschreckend oft im Trottoir. Sie sollen die Menschen zum kurzen Innehalten anregen und zum Nachdenken darüber, was vor knapp hundert Jahren in Deutschland passiert ist. Gunter Demnig: “Viele der Opfer von damals haben keine Grabstätte und keinen Grabstein. Die Stolpersteine geben diesen Menschen ihren Namen zurück. Denn: Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.”
Das Stolpern im Alltag über diese in den Fußweg eingelassenen Erinnerungsmale kann man auch noch besser formulieren. Gunter Demnig: “Ein Schüler hat mir das einmal sehr schön erklärt. Man stolpert erst mit dem Kopf, und dann mit dem Herzen.”
Über 117.000 Steine wurden bereits in 1.900 Städten und Gemeinden in 31 Ländern Europas in den Boden gesetzt. Das sind erschreckend viele Einzelschicksale, die nun nicht mehr vergessen werden können. Inzwischen gibt es zahlreiche Unterstützer, die die Idee der Stolpersteine weitertragen. Einige helfen mit ihren Spenden dabei, dass das nötige Material besorgt werden kann. Andere wie eben die Falkenseer Vorbereitungsgruppe kümmern sich darum, in minutiöser Detektivarbeit die Fakten einzusammeln und das Leben der Menschen nachzuzeichnen, die durch einen Stolperstein vor dem Vergessenwerden bewahrt werden sollen.
Ines Oberling: “Unsere Vorbereitungsgruppe gibt es seit 2006, in dieser Zeit konnten wir bereits 55 Stolpersteine zwischen Falkensee und Ribbeck verlegen.”
In der Böcklinstraße ging es direkt am Muttertag um das Einzelschicksal der kinderlosen Familie Lipstein – er Jude, sie Deutsche. Das Paar wurde drangsaliert, überfallen, gedemütigt, vertrieben und enteignet. Die Lipsteins überlebten, gingen aber trotzdem an den Folgen ihrer Entbehrungen zugrunde.
An die ein hundert Personen hatten sich am 11. Mai vor dem Zuhause der Familie Lipstein eingefunden. Es gab Musik, Bürgermeister Heiko Richter, Hans-Peter Pohl als Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung und Uwe Ulrich sowie Thomas Lenkitsch als Mitglieder der lokalen Stolperstein-Gruppe hielten eine kurze Ansprache.
Kein Wort sagte Gunter Demnig. Er ist zwar der Erfinder der Stolpersteine, macht aber wenig Aufhebens um seine Person. Wie ein Handwerker setzte er die vorbereiteten Stolpersteine mit tausendfach eingeschliffenen Handgriffen in das vorbereitete Loch im Bürgersteigfundament und kümmerte sich wortlos um einen sicheren Halt.
An vielen Orten in Deutschland gibt es Freiwillige, die sich um die Stolpersteine kümmern und sie regelmäßig putzen und säubern. Wurde denn noch nie ein Stolperstein beschädigt? Gunter Demnig: “Etwa 900 von den 117.000 Stolpersteinen wurden gezielt aus dem Untergrund herausgeholt. Am 9. November ist das sehr gezielt in Greifswald passiert, da wurde Greifswald im Internet zur Stolperstein-freien Zone erklärt. Danach kamen aber so viele Spenden zusammen, dass ich 36 neue Steine verlegen konnte. Im Darmstädter Raum ist Ähnliches passiert, das ist also kein Ost-West-Phänomen. Im Aachener Raum haben sie mir die Nummernschilder abgebrochen, da war ich erst einmal lahmgelegt. Da habe ich mir eben neue Schilder gemalt.”
Nach der Zeremonie konnten die Zeugen der Stolpersteinverlegung Blumen an der neuen Gedenkstätte ablegen.
Eine tolle Geste: Die aktuellen Bewohner der Böcklinstraße 51 öffneten Haus und Garten für die Besucher vor ihrer Haustür und baten zu Kaffee und Kuchen. Das Haus hat sich von außen nicht wirklich verändert, seitdem Ernst und Margarete Lipstein in ihm gewohnt haben; das konnte man sich selbst einmal anschauen. Um in den Räumlichkeiten darüber nachzudenken, wie groß wohl der Schock gewesen sein muss, wenn man nach Hause kommt und die Nazi-Schergen haben in der Zwischenzeit jedes Fenster zerschlagen, die Schränke umgekippt und die Wäsche der Frau über sämtliche Straßen der Nachbarschaft verteilt. (Text/Fotos: CS)
Ernst und Margarete Lipstein
Die Geschichte der Familie Lipstein aus Finkenkrug
Ernst Lipstein wurde am 4. Februar 1874 in Königsberg i.Pr. (Ostpreußen) geboren und war jüdischen Glaubens.
Nach Abschluss des Realgymnasiums studierte er Maschinenbau an der Technischen Hochschule Charlottenburg. Als Maschinenbauingenieur arbeitete er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1932 bei namhaften Firmen wie Siemens oder AEG.
Am 23. März 1911 heiratete er in Berlin Margarete Mechelke, die evangelisch war. Die Ehe blieb kinderlos. Um 1925 zog das Ehepaar in das Haus in der damaligen Kaiserin-Augusta-Straße 52 in Finkenkrug ein. Wahrscheinlich planten sie, in diesem beschaulichen Villenvorort ihren Lebensabend zu verbringen.
Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren die Lipsteins dort jedoch ständigen Belästigungen und Bedrohungen durch die ortsansässige SA ausgesetzt. Der Höhepunkt der Anfeindungen war auch hier der 9. November 1938.
An diesem Tag drangen marodierende SA-Leute gewaltsam in das Haus ein, in dem sich zum Zeitpunkt des Überfalls aber nur die Hausangestellte aufhielt. Die wertvolle Einrichtung der 7-Zimmer-Wohnung wurde komplett zerstört.
Am Tag darauf wurde Ernst Lipstein von der Polizei in Falkensee verhaftet und erst nach 10 Tagen wieder entlassen. Aufgrund des weiter ausgeübten Drucks sah das Ehepaar Lipstein keinen anderen Ausweg, als das Haus weit unter Wert zu verkaufen und Finkenkrug endgültig zu verlassen. Am 1. Dezember 1938 zogen sie in ein möbliertes Zimmer nach Berlin-Wilmersdorf.
Aber auch in Berlin wurde Herr Lipstein weiter gedemütigt. Im Februar 1939 erhielt er den Bescheid über die sogenannte Judenvermögensabgabe in Höhe von 7.200 RM, die später auf 9.000 RM erhöht wurde. Außerdem musste er ab 19. September 1941 den sogenannten Judenstern tragen und auf seine mit “J” gekennzeichneten Bezugskarten bekam er nur das Minimum an Lebensmitteln.
Das Ehepaar Lipstein überlebte zwar Krieg und Naziherrschaft, war aber körperlich und seelisch stark angegriffen. Die Entbehrungen der letzten Jahre hinterließen ihre Spuren.
Margarete Lipstein brach am 5. Juni 1947 auf einem Berliner Bahnhof zusammen und starb kurz darauf. Ihr Ehemann Ernst Lipstein folgte ihr elf Jahre später am 9. Mai 1958. (Quelle: Vorbereitungsgruppe Stolpersteine in Falkensee und dem Osthavelland als Teil der Lokalen Agenda 21 Falkensee, www.stolpersteine-falkensee.de)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 231 (6/2025).
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