Scheibes Glosse: Nur Idioten
Jeden Tag aufs Neue begegnen uns fremde Menschen, die unfreundlich sind, die nörgeln, die einen kritisieren, die einen anpöbeln, die also – kurz zusammengefasst – dazu beitragen, dass die schönste gute Laune verfliegt und man sich urplötzlich sehr, sehr unwohl in der eigenen Haut fühlt. Das führt dazu, dass man Kritik plötzlich persönlich nimmt. Es gibt aber einen Kniff, das Grantig-sein anderer Menschen nicht mehr an sich heranzulassen.
Jeder kennt das. Man geht seiner Arbeit nach, lebt sein Leben, ist guter Dinge und hat einen schönen Tag. Und aus dem Nichts heraus steht plötzlich ein menschlicher Grinch vor einem, der eine halb persönliche und halb generalistische Gemeinheit heraushaut. Diese nimmt man – emotional getroffen – sehr persönlich und verbringt ganze Tage damit, über wenige Worte nachzudenken. Und das leider mit dem Ansatz: “Was habe ich denn falsch gemacht?”
Da gibt es etwa die bemühte Lehrerin, der plötzlich grob von Elternseite vorgeworfen wird: “Als in der Universität kinderfreundliche Pädagogik gelehrt wurde, da waren Sie doch Zuhause und haben Katzenbabys in den Ventilator geworfen.”
Der Restaurantbetreiber bekommt zu hören: “Das Haar in der Suppe war das einzig Nahrhafte, den Rest vom Menü würde man nicht einmal zum Düngen von Staudensellerie verwenden können.”
Der Arzt, der zeitaufwendig der Ursache eines hartnäckigen Wehwehchens auf der Spur ist, wird plötzlich angemeckert: “Sie haben Ihren Doktortitel doch wohl auch in einer Quizsendung gewonnen, Sie viel zu junger Stethoskop-Jongleur, der es aufgrund seines Alters doch gar nicht geschafft haben kann, Erfahrungen außer im Nasepopeln zu sammeln.”
Die Konditorin, die einen leckeren Streuselkuchen aus dem Ofen geholt hat, bekommt mitunter das zu hören: “Wenn ich Ihren steinharten Kuchen mit der groben Pfeile kleinfräsen würde, bräuchte ich im Winter kein Streugut für meine Einfahrt mehr zu kaufen. Ich hätte aber große Angst, dass mir die betonharten Krümel doch noch meine Fliesen zerkratzen. Womit backen Sie? Mit Sahara-Sand?”
Wenn man aus dem Nichts heraus mit völlig fremden Menschen konfrontiert wird, die aus ihrem tiefsten Inneren heraus fies, gemein, ätzend, unkontrolliert, übergriffig und stänkerig zu einem sind, da fragt man sich schon: Was darf man diesen Leuten eigentlich antun? Rein legal?
Leider ist es nicht erlaubt, sie in die nächste Schlammpfütze zu tunken, ihnen einen toten Fisch ins Auto zu legen, veränderte Fotos von ihnen auf Facebook hochzuladen, ihnen ungesehen die Schnürsenkel beider Schuhe zusammenzubinden oder ihnen einen künstlichen Eselschwanz an den Hintern zu kleben.
Und so hadert man stattdessen mit sich selbst und fragt sich: Was habe ich denn falsch gemacht, dass diese Leute solche Dinge zu mir sagen? Was muss ich ändern, damit das nicht noch einmal passiert? Wer aber nächtelang über solche Begegnungen nachgrübelt, gibt sich insgeheim selbst die Schuld und glaubt im tiefsten Inneren, diese Schimpfkanonade vielleicht auch irgendwie sogar verdient zu haben.
Dem ist aber nicht so. Ich habe eine Methode, eher ein Gedankenkonstrukt entwickelt, um mit solchen Situationen besser umzugehen. Und zwar so, dass ich mir am Ende keine Gedanken darüber mache, was ich denn selbst falsch gemacht habe.
Das Gedankenexperiment geht so. Ich sage mir einfach jeden Tag wie ein Mantra: “Jeder hundertste Mensch, den ich treffe, ist ein Arschloch.” Das nehme ich als Fakt. Ich gehe einfach davon aus, dass jeder 100. Mensch ein emotionaler Neandertaler ist, ein ewiger Nörgler, ein Bulli und Drangsalierer, der mit ewig schlechter Laune durch die Welt geht und einfach ein unerträglicher Unsympath ist. Keine Ahnung, was ihn (oder sie!) auf diese grün-schleimige Spur der Verachtung gebracht hat. Es ist eben so. Dass diese Person so ist, hat überhaupt gar nichts mit mir zu tun. Jeder könnte an jedem Tag das persönliche Pech haben, einem solchen Menschen mit einer emotional-empathischen Nulllinie in den Weg zu geraten.
Für mich bedeutet das: In meinem Leben treffe ich zunächst einmal 99 total liebe, nette, aufgeschlossene, freundliche, coole, tolle Menschen. Die Begegnung mit ihnen ist ein Gewinn, ich fühle mich gut, die Sonne scheint. Super.
Und wenn dann die Nummer 100, der emotionale Grinch, das Arschloch, vor mir steht, dann denke ich fast freudig: “Ach guck an, da ist er ja!” Mit fast wissenschaftlichem Interesse beobachte ich die Entgleisung, das Pöbeln, das emotionale Piesacken. Und ich bleibe derweil völlig entspannt, weil ich ja ganz genau weiß: Das hat gerade überhaupt rein gar nichts mit mir zu tun, der nörgelige Nervtyp vor mir ist einfach die Nummer 100.
Und wenn der Idiot weitergeht, weiß ich: Jetzt kommen wieder 99 nette Begegnungen. Und der Tag ist schön.
(Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 226 (1/2025).
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