Kino-Filmkritik: Napoleon

Mit 85 Jahren verfilmte Altmeister Ridley Scott das Leben von Napoleon Bonaparte. Nein, das stimmt so nicht: Es sind nur etwa 30 Jahre, die der Film an der Seite des französischen Militärstrategen verbringt. Aber diese 30 Jahre haben es bereits so in sich, dass man als Zuschauer das Gefühl hat, im Zeitraffer durch die europäische Geschichte zu rasen. Es passiert einfach so unglaublich viel.
Der Film setzt 1789 ein, in den Nachwehen der Französischen Revolution, als Napoleon sich bewährt und in den militärischen Dienstgraden langsam nach oben wandert. 1799 kommt Napoleon durch einen Staatsstreich selbst an die Macht und wird erst Erster Konsul und später sogar Kaiser der Franzosen. 1812 verliert er den Russland-Feldzug, 1814 muss er abdanken und wird auf die Insel Elba verbannt. Hier hält er es nicht lange aus – und kehrt nach einem Jahr aufs Festland zurück, um die Franzosen in die Schlacht von Waterloo zu führen.
Zunächst einmal: “Napoleon” ist ein bildgewaltiges Epos, das sechs berühmte Schlachten auf der Leinwand neu inszeniert. Es ist äußerst desillusionierend mitzuverfolgen, wie sich Frankreich, England, Preussen, Russland und Österreich in immer wieder wechselnden Allianzen gegenseitig in die Haare bekommen und bekriegen. Und wie unfassbar viele Menschen als tumbes Kanonenfutter in den Schlachten sterben, nur weil ihre Anführer wieder einen neuen Zwist ausfechten müssen.
Auch wenn nicht jedes Detail im Film authentisch ist, so gibt uns “Napoleon” eine superbe Nachhilfestunde in europäischer Geschichte.
Joaquin Phoenix brilliert als kühner, kühl überlegender und taktisch brillanter Kriegsherr, der eine unfassbare Präsenz auf der Leinwand hat und Napoleon fühl- und fassbar macht.
Deutlich mehr Tiefe bekommt der Film aber auch, weil Ridley Scott Napoleons Liebe zu der aus dem Gefängnis befreiten Joséphine (Vanessa Kirby) ebenso viel Platz einräumt wie den militärischen Erfolgen. Napoleon zeigt sich in der Liebe plötzlich unreif, besitzergreifend, toxisch – und findet in Joséphine einen würdigen Gegner. Wie diese beiden Menschen sich anziehen, abstoßen, sich gegenseitig aufbauen und zugleich zerstören, das ist ganz großes Kino. Als Schauspielerin ist Vanessa Kirby hier ihrem Kontrapart Joaquin Phoenix mehr als nur ebenbürtig. Es wäre nicht verwunderlich, wenn beide für diesen Film für einen Oscar vorgeschlagen werden.
Fast drei Stunden ist “Napoleon” lang. Es fällt schwer, angesichts der Schlachten, Liebeleien, Ränkespiele, Hinrichtungen, höfischen Intrigen, Aufstände, Staatsstreiche, Bombardierungen, außerehelichen Liebschaften und Reisen durch zahlreiche Länder auf drei Kontinenten den Überblick zu behalten.
Das tut dem Film aber keinesfalls weh. Man verlässt das Kino beseelt und im Bewusstsein, einen der größten und sicherlich auch besten Filme des Jahres gesehen zu haben. Man weiß aber auch, dass es Spaß machen wird, ihn noch einmal zu sehen, um auf Details zu achten, die erst im Fortschreiten der Ereignisse wichtig werden – und die man beim ersten Schauen schlicht übersehen hat.
Das etwa 200 Millionen Dollar teure Epos wurde von Apple mitfinanziert. Da lohnt es sich zu wissen, dass es einen Director’s Cut mit fast vier Stunden Länge geben wird, der exklusiv auf dem Streaming-Dienst Apple+ zu sehen sein wird.
Und fast ist man versucht, nach dem Film auch noch eine gedruckte Biografie von Napoleon zu kaufen, um noch tiefer in das Leben dieses beeindruckenden Mannes einzutauchen. Auch wenn er Hunderttausende in den Tod geführt hat. (CS / Bilder: Sony Pictures)
Fazit: 4,5 von 5 Sternen (FSK 12)
Spieldauer: 157 Minuten
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=w-at19HholI
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 213 (12/2023).
Seitenabrufe seit 23.11.2023:
Kennen Sie schon unsere Gratis-App?
Apple – https://unserhavelland.de/appapple
Android – https://unserhavelland.de/appandroid
Anzeige
