Scheibes Glosse: Schokolade
Es gibt eine Sucht, die wird von der Bevölkerung noch immer komplett unterschätzt – und das ist der Jieper nach süßer Schokolade. Während andere gegen den Teufel im bis zum Rand gefüllten Schnapsglas oder den geräuchterten Tod in der glimmenden Zigarette ankämpfen, entscheiden sich die Schokisüchtigen tagtäglich zwischen Zartbitter und Vollmilch-Nuss. Dies hier ist ein Erfahrungsbericht.
Wie lebt man mit einem Schokoladensüchtigen zusammen? Wenn man ein Kind ist und der eigene Erziehungsberechtigte der Süchtige ist, dann braucht es schon eine gewisse Zeit, um diese Sucht überhaupt wahrzunehmen.
So konnte ich als Kind nie so richtig die Begeisterung der Freunde für den weihnachtlichen Schokokalender begreifen. Ich meine, schön, man durfte vom 1. bis zum 24. Dezember an jedem einzelnen Tag ein kleines Papptürchen aufklappen. Dahinter zeigte sich aber doch nur ein buntes Bildchen, das man sich anschauen konnte.
Es dauerte Jahre, bis ich endlich in Erfahrung brachte, das in normalen Familienhaushalten ein kleines Stück Schokolade den unmittelbaren Blick auf das Bild versperrte. Was für eine tolle Idee: Jeden Tag eine Schokoladenüberraschung im Kalender. Da hatte anscheinend jemand aus meiner Familie täglich den Kalender durch die Hintertür geplündert.
Und ich musste noch mehr über Schokolade lernen. Nach der Grundschule lief ich immer zu meinen Großeltern, die wohnten neben der Schule. Hier gab es für mich ein Mittagessen, ich konnte spielen oder die Hausaufgaben machen. Nachmittags ging es nach Hause. Was ich nicht wusste: Mein Opa packte mir immer einen Schokoriegel mit in meinen Schulranzen. Als er mich Monate später einmal fragte, ob denn die Sorte in Ordnung sei, konnte ich nur mit den Schultern zucken: Was denn für ein Schokoriegel? Schnell war der Schuldige gefunden: Wieder war es das enge Familienmitglied. Die klare Ansage: „Wenn der Opa möchte, dass der Junge einen Schokoriegel in seinem Schulranzen vorfindet, muss er eben ZWEI Riegel hineintun.“ So lief es in den Folgejahren.
Auch meine Mutter wollte mir ab und an etwas Gutes tun. Von einem Einkauf brachte sie eines Tages einen ganzen Stapel mit preisreduzierten Schokoladentafeln mit nach Hause. Ab und an bekam ich eine Tafel aus dem geheimen Versteck heraus überreicht. Das blieb in der Familie nicht lange verborgen. Eines Tages war das Versteck geplündert. Es lag nur noch ein Zettel in der Schublade: „Danke, Ingo“.
Also musste in der Familie ein neues Versteck gefunden werden, um „den Süchtigen“ auf Abstand zu halten. Meine Mutter fand sehr schnell das perfekte Versteck – in der Küche. In der hintersten Ecke des Tiefkühlers, versteckt zwischen gefrorenen Erbsen und Pizza, wurde nun die Schokolade verborgen.
Aber auch dieses Versteck hielt nicht für alle Ewigkeit. Eines Tages hatten wir Mitleid mit unserem Schokosüchtigen – und es gab ein kleines Eck Schokolade für ihn. Am nächsten Tag war das Versteck plötzlich leergeräumt. Der Dieb gab den Schokoraub unverblümt zu: „Die Schokolade war so kalt, da war mir doch sofort klar, aus welchem Versteck sie gekommen ist.“
Mit den Jahren haben wir gelernt, Schokolade nur sparsam zu kaufen und sie sofort zu verbrauchen. Jedes Versteck wäre andererseits umgehend geplündert worden. Hätten Einbrecher eine ähnlich gute Schnüffelnase, wenn es darum gehen würde, die Wertsachen einer Familie aufzuspüren – Deutschland wäre bereits verarmt.
Aber eine Schokoladensucht vergeht nicht, sie schläft nur. Und sie erwacht sofort, sobald frische Schokolade in den eigenen Dunstkreis gerät. So war es eines Tages, als eine Feier im Freundeskreis anstand – und meine Mutter eine Packung mit Rocher-Schokokugeln besorgte, um daran einen Gutschein festzumachen. Bereits auf dem Weg zur Feier monierte sie, dass ihr die Plastikschachtel mit den Schokokugeln ungewöhnlich leicht vorkam.
Noch am gleichen Abend offenbarte sich, dass sich meine Mutter nicht geirrt hatte. Alle Rocher-Kugeln waren nämlich – leer. Jeder Geldfälscher auf der Welt wäre neidisch über diese Arbeit gewesen. Man sah es der Schachtel von außen nicht an, dass sie geöffnet worden war. Alle Klebestreifen waren noch da, wo sie sein sollten. Und die Rocher-Alufolie war noch immer genau so gekrümmt, als würde die Schokopraline weiterhin in ihr stecken. Für die Familie war es natürlich sehr peinlich, ein derart geplündertes Geschenk zu übergeben. Auch hier gab es schnell die passende Antwort: „Hättet ihr mal besser zwei Packungen gekauft.“
Inzwischen hat der Schokoladensüchtige sein Problem erkannt – und alle Schokolade verbannt. Nun heißt es: Führe mich nicht mehr in Versuchung. Ob es wohl auch die anonymen Schokoladensüchtigen gibt? (Carsten Scheibe)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 203 (2/2023).
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