Leben auf Pause: Falkenseer Selbsthilfegruppe für Long Covid und Post Vakzin!

Martina Freisinger aus Falkensee hat nach ihrer Corona-Erkrankung lang anhaltende Symptome von „Long Covid“ entwickelt – an manchen Tagen kann sie kaum das Bett verlassen, ihr Studium pausiert seitdem. Melanie Lafont Castillo aus Dallgow-Döberitz klagt über ähnliche Symptome – allerdings nach einer Impfung. Gemeinsam haben sie eine Selbsthilfegruppe für Betroffene mit dem Long-Covid- oder dem Post-Vakzin-Syndrom ins Leben gerufen.
Stell dir vor, du bist krank – und die Symptome gehen einfach nicht mehr weg. Sie bleiben, verändern sich, lähmen abwechselnd Körper und Geist – und sorgen dafür, dass ein normales Leben im Alltag nicht mehr möglich ist. Unvorstellbar? Auch für Martina Freisinger. Bevor sie plötzlich selbst betroffen war.
Martina Freisinger (25) kennt man in Falkensee. Die durchaus auch streitlustige, stets quirlige und engagierte junge Frau ist Anfang des Jahres noch Mitglied der Falkenseer Stadtverordnetenversammlung, Sprecherin des Kreisverbandes der Grünen im Havelland und ehrenamtliche „Kümmerin“ an vielen Stellen.
Martina Freisinger: „Ich habe meinen Bachelor in Sozialer Arbeit abgeschlossen und war bereits an zwei Tagen in der Woche an einer Oberschule in Nauen als Sozialarbeiterin tätig. Außerdem habe ich an meinem Master gearbeitet. Ende März hat es mich erwischt, ich habe Corona bekommen. Ich hatte keine schlimmen Symptome, man würde den Verlauf wohl klassisch als mild bezeichnen. Im Verlauf der Infektion litt ich an Schwindelanfällen, extremer Erschöpfung und Druck auf der Brust. Als mein Corona-Test negativ war, wollte ich wieder arbeiten. Das hat mich aber so sehr zurückgeworfen, dass Arbeit anschließend gar nicht mehr möglich war. Seitdem bin ich dauerhaft krankgeschrieben und inzwischen auch offiziell als Long-Covid-Patientin diagnostiziert.“
Für die Frau, die sonst auf allen Hochzeiten tanzt, ändert sich plötzlich alles. Sie hat keine Kraft mehr, kommt manchmal den ganzen Tag nicht aus dem Bett und klappt im Nachgang zu körperlichen oder geistigen Anstrengungen komplett zusammen. Auslöser ist das „Chronische Fatigue-Syndrom“.
Martina Freisinger: „Ich war immer eine Vorzeigestudentin. Ich habe im Bachelor einen Einser-Abschluss, schrieb auch im Master gute Noten und wollte eigentlich schon meine Doktorarbeit planen. Auf einmal ging gar nichts mehr. Ich habe meine Funktion als Sprecherin der Grünen aufgegeben und war seitdem auch nicht mehr in der Uni. Ich musste alles, für das ich mich berufen fühle, pausieren. Das ist für mich nur schwer auszuhalten. Ich bin aber noch Stadtverordnete, da kann ich mich auch online zur SVV zuschalten.“
Mal kann Martina Freisinger ein wenig Fahrrad fahren oder mit Freunden spazieren gehen, mal reicht es aus, ein paar Teller abzuwaschen oder den Staubsauger in die Hand zu nehmen, um anschließend stundenweise oder für den ganzen Tag ans Bett gefesselt zu sein: „Am schlimmsten ist, dass mein Nervensystem komplett verrückt spielt. Ich habe Nervenschmerzen, Kälteanfälle, Zuckungen, Gangschwierigkeiten und eine Überempfindlichkeit gegenüber sämtlichen Reizen. Ich habe auch kognitive Aussetzer. Dann kann ich mich nicht an Namen erinnern oder erkenne Gesichter nicht mehr.“
Extreme Müdigkeit und „Brain fog“ nach der dritten Impfung
Leidet Martina Freisinger an „Long Covid“, so ist Melanie Lafont Castillo (43) aus Dallgow-Döberitz an „Post Vakzin“ erkrankt.
Sie sagt: „Ich habe nachweislich noch keine Corona Infektion gehabt. Ich habe meine Symptome nach dem Impfen bekommen. Im März und April habe ich meine ersten beiden Impfungen erhalten. Die ersten Symptome folgten gleich nach der Impfung, Kopfschmerzen und extremer Schwindel. Ich bin draußen geschwankt, als würde ich auf rohen Eiern laufen. Außerdem war ich ständig müde und kraftlos. Im Dezember 2021 habe ich meine dritte Impfung bekommen – und diese hat mich leider voll erwischt. Ich habe extreme Kopfschmerzen bekommen, die sich über Tage hinziehen konnten. Zwei Mal stand ich kurz vor einer Ohnmacht aufgrund der Schmerzen und der Überlastung des Nervensystems.“
Melanie Lafont Castillo hat sich vor zwei Jahren als Fußpflegerin selbstständig gemacht und sich eine eigene Existenz aufgebaut: „Im Januar und Februar habe ich eine Pause in meinem Beruf eingelegt und dachte mir, das wird schon wieder. Im März habe ich langsam wieder angefangen zu arbeiten, aber schnell festgestellt, dass ich das nicht mehr leisten kann. Am Anfang habe ich noch vier Kunden am Tag geschafft, am Ende konnte ich nicht mal mehr eine Stunde arbeiten. Danach musste ich sofort ins Bett, um mich auszuruhen. Ich habe Nervenschmerzen am ganzen Körper bekommen, Herpes und Zuckungen am Kopf. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich mich nicht mehr richtig konzentrieren kann und Informationen, die ich aufnehme, fast sofort wieder vergesse. Im Juni war ich in der Reha, da habe ich die Vorstufe eines Schlaganfalls erlebt und konnte stundenlang nicht sprechen. Das war der schlimmste Tag in meinem ganzen Leben. Seitdem kann ich nicht mehr arbeiten, meine Existenz liegt in Scherben. Meine Eltern und mein Mann kümmern sich um meine beiden Kinder.“
Melanie Lafont Castillo: „Mir hat eine Cortison-Behandlung sehr gut getan. Aber noch immer gibt es keine richtige Therapie und keine offiziell empfohlenen Medikamente. Ich habe bereits viel Geld für medizinische Tests ausgegeben. Die Behandlungen, die zurzeit von den Ärzten durchgeführt werden, sind leider noch nicht erforscht.“
Martina Freisinger und Melanie Lafont Castillo lernen sich über einen Zeitungsartikel kennen – und tauschen sich aus.
Melanie Lafont Castillo: „Mir hat es sehr geholfen, dass ich so auf einmal erfahren habe, dass meine extreme Vergesslichkeit und mein Mangel an Kurzzeitgedächtnis inzwischen sogar einen wissenschaftlichen Namen haben. Brain fog nennt man das – Gehirnnebel. Das trifft es tatsächlich sehr gut.“
Ein Weg, um etwas für sich selbst zu tun: Eine Selbsthilfegruppe gründen
Aus den gemeinsamen Gesprächen entwickelte sich schnell die Idee, eine „Selbsthilfegruppe für Betroffene vom Long Covid- und Post-Vakzin-Syndrom“ zu gründen.
Martina Freisinger: „Ich habe eine gute Hausärztin in Falkensee, mit der ich vertrauensvoll zusammenarbeite und bei der ich mich aufgehoben fühle. Aber diese Erfahrung machen nicht alle von uns. Manche Ärzte nehmen die Symptome nicht ernst, da kommt dann schon die Aussage durch: Stellen Sie sich nicht so an. Andere Ärzte sind da empathischer, aber sie wissen einfach nicht, was sie gegen unsere Beschwerden unternehmen sollen. Inzwischen haben wir das Gefühl, dass wir oft mehr Wissen angesammelt haben als die Ärzte. Man wird schlussendlich zur Expertin der eigenen Krankheit. Im Austausch mit anderen Betroffenen möchten wir uns gegenseitig helfen und unterstützen.“
Melanie Lafont Castillo: „Ich stand am Anfang komplett alleine da. Niemand hilft. Ich hatte große Angst, deshalb ist die Selbsthilfegruppe genau das richtige.“
Dass die beiden Frauen die Selbsthilfegruppe nun gemeinsam leiten, sei ein großer Vorteil, so Martina Freisinger: „Mal fällt die eine aus, mal die andere. Wir unterstützen uns gegenseitig sehr.“
Seit Oktober trifft sich die Selbsthilfegruppe alle zwei Wochen immer am Montag ab 16:30 Uhr im ASB-Café in der Falkenseer Bahnhofstraße 85. In der Woche dazwischen gibt es ein Online-Treffen. Eine Anmeldung erfolgt über die Mail-Adresse lc-pv-selbsthilfe@gmx.de.
Melanie Lafont Castillo: „In der Selbsthilfegruppe sind wir etwa zehn Leute, mehr geht aus Platzgründen nicht. Martina ist die jüngste von uns, die meisten sind so zwischen 40 und 60 Jahre alt. Wir berichten bei den Treffen von unseren Erfahrungen, verweisen auf hilfreiche Ärzte, informieren über mögliche Therapien und erzählen von Reha-Aufenthalten oder Atemübungen.“
Sowohl Martina Freisinger als auch Melanie Lafont Castillo haben auch jetzt noch Angst vor einer neuen Corona-Ansteckung – und tragen weiterhin ihre Maske.
Melanie Lafont Castillo: „Wer weiß, ob eine Corona-Infektion meine ganze Symptomatik nicht noch weiter verstärken würde.“ (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 201 (12/2022).
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