Hört ihr Leut: Nachtwächter, Türmer und Waschweiber unterwegs in Nauen!
Wolfgang Wiech ist der Nachtwächter von Nauen. Seit zwanzig Jahren führt er neugierige Havelländer und Touristen abends durch die Nauener Altstadt und erzählt Schockierendes, Lästerliches und Historisches. Vom 4. bis zum 6. November hatte er zum ersten Mal zahllose Kollegen aus der Nachbarschaft zu Gast: Das jährliche Treffen der Gilde Ost fand in der historischen Ackerbürgerstadt statt.
Ach, was hat der Nauener Nachtwächter alles zu erzählen, wenn er in seiner dunklen Kluft mit kerzenerhellter Laterne und silbern funkelnder Helebarde durch die Altstadt zieht. Mehrmals im Monat führt er wissensdurstige Gäste durch seine Stadt, in der er aufgewachsen ist.
An fast jeder Ecke bleibt er stehen, um hier und dort etwas Wichtiges über die Ackerbürgerstadt zu erzählen. Etwa, dass Nauen so groß ist, dass es von der Fläche her der Ausbreitung von Stuttgart entspricht. Oder dass Harald Juhnke in Nauen gewohnt hat, um hier “Der Trinker” zu drehen. Dass die Ackerbürgerstadt im Jahr 1186 zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde, 1292 zur Stadt ernannt wurde und 1695 komplett abgebrannt ist – anscheinend, weil die Magd im bäuerlichen Heuschober deutlich zu heiß geliebt wurde.
Wolfgang Wiech weiß auch zu erzählen, dass Jürgen Drews in Nauen geboren wurde, bevor es ihn später als König nach Mallorca verschlagen hat. Dass der Hauptmann von Köpenick sein Husarenstück eigentlich in Nauen abziehen wollte, aber viel zu große Angst vor den Funkwellen hatte. Und dass der Kronprinz Friedrich in Nauen stationiert war und nebenbei mit der Pfarrerstochter angebändelt hat. Als man ihn nach Beschwerden der Nauener wieder abkommandiert hatte, bedankte sich der beleidigte Kronprinz bei den Bürgern, indem er ihnen mit Steinen die Fenster zerschlug.
Wolfgang Wiech: “Nauens Bürgermeister Manuel Meger hat mich übrigens darum gebeten, bei meinen abendlichen Touren auch gleich die Bürgersteige mit hochzuklappen.”
Gäste der Nachtwächter-Tour lernen außerdem: Der Nachtwächter war früher ein von der Gesellschaft ausgeschlossener Mensch auf der niedrigsten sozialen Stufe. Er ging nachts durch die Straßen, um nach dem Rechten zu sehen, auf Feuer zu achten und um die Zeit anzusagen.
Aber auch der Nauener Nachtwächter möchte einmal etwas Gesellschaft haben. Da reicht sein Waschweib Monika einfach nicht aus. Und so lud er am Wochenende vom 4. bis zum 6. November seine Kollegen aus der Gilde Ost nach Nauen ein.
Wolfgang Wiech: “Ich bin seit 2017 Mitglied in der ‘Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren e.V.’, der in ganz Deutschland und Österreich über 200 Mitglieder angehören. Die Mitglieder aus der Gilde Ost treffen sich einmal im Jahr. In diesem Jahr wurde Nauen zum Treffpunkt erkoren. Über 20 Mitglieder z.B. aus Schöneck, Zwickau, Lichtenstein, Brandenburg an der Havel, Görlitz und Guben haben sich in Gewandung in Nauen eingefunden. Auch aus Hameln und Springe waren Kollegen mit dabei. Ich war ganz schön aufgeregt, ich habe das Programm für die drei Tage selbst zusammengestellt.”
Und das war ein ordentliches Programm. Bereits am Freitagabend lud Wolfgang Wiech zu einem ersten öffentlichen Rundgang durch die historische Altstadt Nauen ein – mit den Kollegen aus der Gilde und mit interessierten Bürgern. Er zeigte seinem Gefolge die urigen Nauener Höfe, wies auf die ehemals zerfallenen und nun restaurierten Häuser hin, erklärte die funktionale Bedeutung der berühmten Nauener Doppeltüren und zeigte mitten in einem Mauerwerk in der Goethestraße auf ein Schlüsselloch, in dem der Nauener Nachtwächter früher seinen Schlüssel versenken musste, um seine nächtliche Runde zu protokollieren – wie mit einer Stechuhr. Die Besucher lernten auch, dass die schmale Rosengasse früher nichts anderes war als eine große Kloake: Hierhin verzog man sich, wenn man musste. Wolfgang Wiech: “Damals sagte man: Tritt bloß nicht in die Röschen. Die Rosengasse ist im Grunde genommen die Klostraße von damals.”
Die ganze Altstadt verwandelte sich unter Wolfgang Wiechs Regie in ein großes historisches Schauspiel. Überall waren instruierte Helfer platziert, die bei einer Annäherung der Nachtwächter für Überraschungen sorgten. Da wurden Nachttöpfe aus dem Fenster auf die Straße entleert. Wünschelrutengänger suchten nach verborgenen Hohlräumen unter der Straße. Ein pöbelnder Bürger wollte den Nachtwächter vertreiben, weil er ja eh nichts arbeitet. Ein alter Ford-Oldtimer musste bestaunt werden. Und am Ende wollte sogar der Schnitter noch eine arme Seele holen.
Die Gäste zeigten sich begeistert. So auch Ralf Edler (64) aus Schöneck im Vogtland, der seit 2009 als Nachtwächter durch seinen Ort führt: “Ich habe damals gedacht, dass es für Schöneck doch sehr schön wäre, wenn es hier einen eigenen Nachtwächter gibt, der auf Führungen mehr über die Historie des Ortes erzählt. Zur Gilde bin ich gekommen, weil ich über sie auch versichert bin. Die Gemeinschaft hier ist aber so toll, dass es mir ein Bedürfnis ist, mich mehr zu engagieren. Man lernt die Kollegen und ihre Regionen besser kennen und nimmt aus jedem Treffen auch etwas für sich selbst mit nach Hause. Ich stelle fest, dass das Interesse der Menschen an der Historie ihres Ortes nach Corona eher noch gewachsen ist. Es ist enorm, wie viele Führungen ich zurzeit machen kann. Zum Glück bin ich jetzt in der Altersteilzeit, da finde ich die Zeit dafür. Und mein Hund ist auch immer mit dabei. Die Fakten für meine Führungen habe ich aus unserem Stadtarchiv. Das ist stets gut geführt worden.”
Aus Hameln war Ulrich Corcilius (56) mit dabei. Der “Türmer von Hameln” führt seit 2010 durch seine Heimat und erzählt Touristen und neugierigen Bürgern aus Hameln Historisches über den Ort: “Wir wurden von der Touristeninformation angesprochen, ob wir eine Führung organisieren können. Man zeigte sich begeistert vom Konzept – und von April bis Ende Oktober gibt es seitdem zwei Führungen in der Woche, die duch die Rattenfängerstadt führen. Wenn man in Hameln aufgewachsen ist wie ich, weiß man, wer wo früher gewohnt hat und was alles im Ort passiert ist.”
Was die Gildenmitglieder umtreibt, fasst Helge Klemm aus Crimmtschau in Sachsen zusammen: “Ich liebe meine Stadt und bin mit Leidenschaft Nachtwächter. Vier Mal im Jahr lade ich zu einer öffentlichen Führung ein.”
Wolfgang Wiech lud seine Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der Zusammenkunft zu einer Gildenbesprechung ins Rathaus ein, startete zwei Führungen durch die abendliche Altstadt, organisierte einen Ausflug nach Ribbeck und machte auch eine Führung zur Kirchengruft in Berge möglich. Außerdem organisierte er die gemeinsamen Mahlzeiten im Nauener Hof und im Casa Toro Negro. Auch ein öffentlichkeitswirksamer Fototermin vor dem historischen Rathaus war mit eingeplant.
Bürgermeister Manuel Meger nutzte diese Gelegenheit, um Wolfgang Wiech zu 20 Jahren Nachtwächtertum zu beglückwünschen: “Er möge als Gefährte der Nacht auch weiterhin in treuen Diensten über unsere Stadt wachen und sie vor jeglichem Ungemach schützen.”
Passend dazu gab es eine Urkunde und einen Stocknagel für die Hellebarde des Nachtwächters.
Bei dem Treffen wurde auch der hölzerne Wandernachtwächter nach einem Jahr in Nauen an den Kollegen Helge Klemm übergeben. Er wird im kommenden Jahr das Regionaltreffen Ost der Gilde ausrichten und organisieren. (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 201 (12/2022).
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