Durch den Äther beim 5. Steampunknoptikum: Für Zeitreisende nur gegen bar!

Ganz, ganz wichtig sind die großen, coolen Brillen mit allerlei Zahnrädern, großen Knöpfen und spiegelnden Gläsern. Sie helfen den Steampunks dabei, wohlbehalten durch die Zeit zu reisen, um aus einer kaputten Zukunft in eine viktorianische Vergangenheit zu gelangen. Wer sich im Aether allerdings die Ganglien im Hirn verknotet hat, braucht dringend ein paar Stunden Erholung – etwa auf dem 5. “Steampunknoptikum” auf der Spandauer Insel Eiswerder.
Am 6. und 7. August tummelten sich bereits zum fünften Mal eine Handvoll sehr obskurer Zeitreisender auf der Insel Eiswerder. Sie waren dem Ruf der “Galerie Inselspinnen” (unter der Leitung von Hans Werner Gillen und Eddie Rabe) gefolgt, um sich unter Ihresgleichen über ganz besondere Themen der angewandten Science-Fiction auszutauschen.
“Steampunk ist die Zukunft einer Vergangenheit, die es nie gab.”
Johnny Egon Sachse (62), der im Steampunk eher als Egon Helmut Walter Freiherr von Rudow bekannt ist, erklärt die Faszination von geschätzt 20.000 aktiven Fans in Deutschland wie folgt: “Der Steampunk ist literarisch begründet und stammt aus der Science-Fiction. Hier kam zunächst der Cyberpunk auf. Er erzählte Geschichten aus einer kaputten Mad-Max-Zukunft, in der nichts Neues mehr hergestellt wird und man alle technischen Geräte selbst aus alten Dingen neu zusammensetzen muss. Verlagert man diese Zukunftsfiguren in das vergangene viktorianische Zeitalter mit seinen Anzügen, Westen und Spitzenkleidern, so ist man im Steampunk angekommen. Der letzte große Steampunk-Film im Kino nach ‘Wild, Wild West’ war ‘Mortal Engine’ von Peter Jackson. Die Urväter des Steampunks waren übrigens bereits H.G. Wells und Jules Verne. Insbesondere Kapitän Nemo, der in einem sehr futuristischen U-Boot durch die Vergangenheit fuhr, passt perfekt zum Steampunk.”
Die Steampunk-Szene kleidet sich gern wie ihre Vorbilder aus den Comics, Romanen oder Filmen. Dabei ist es sehr wichtig, dass alles handgemacht ist. Das Recycling wird in der Szene ganz besonders groß geschrieben.
Johnny Egon Sachse: “Unsere Szene wächst noch immer. Erst kommen Neugierige ganz normal gekleidet zu unseren Treffen, dann haben sie auf einmal die ersten Accessoires an sich – und dann eskaliert es ganz plötzlich. Wir Steampunks sind übrigens völlig unpolitisch. Zumindest versuchen wir es. Denn wo fremde Menschen zusammenkommen, wird es immer irgendwann politisch. Der Steampunk beschäftigt sich mit dem viktorianischen Zeitalter von 1837 bis 1901 – und lässt dabei jede Form von Extremismus aus. Wir möchten ein friedliches, buntes und kreatives Völkchen sein – etwas versponnen, aber liebenswert.”
Bei den Treffen wie etwa dem “Steampunknoptikum” in Spandau kommt es nicht nur zum Schaulaufen der prächtig gewandeten Fans, die glatt einem Film entsprungen sein könnten. Vor Ort werden auch “aus der Zeit gefallene Steampunk-Exponate” präsentiert und verkauft: Wo sonst soll man sich auch mit neuen Zahnrädern eindecken? Es werden Bastelanleitungen ausgetauscht, es treten Musikbands wie etwa die Spielmannsleute “Dumdideley” auf und es gibt neue Zeitreisevisa und lokale Temporalmarken, die sich alle Steampunks gern in ihre wunderschön gestalteten Zeitreiseausweise einkleben, mit denen sie ihre Teilnahme an den Veranstaltungen nachweisen.
Johnny Egon Sachse: “Anja Bagus (www.anja-bagus.de) ist für uns eine sehr wichtige Autorin. In ihren Steampunk-Büchern hat sie das Amt für Aetherangelegenheiten erfunden und uns damit eine bürokratische Grundlage gegeben, die auch in unsere Wirklichkeit übergreift. So kümmere ich mich inzwischen um die Aether-Außenstelle Berlin und stelle die entsprechenden Temporalmarken aus.”
Kommen die Steampunks zusammen, geht es schnell kreativ zu. Johnny Egon Sachse: “Letztes Jahr haben wir uns überlegt, das Gemälde ‘Das letzte Abendmahl’ von Leonardo da Vinci in einer eigenen Steampunk-Version nachzustellen. Inzwischen haben wir über 70 berühmte Gemälde von ‘Der Schrei’ über ‘Das Schokoladenmädchen’ bis hin zu ‘American Gothic’ nachempfunden. Diese Fotos haben wir auf Leinwände gedruckt, zu einem dicken Buch gebündelt und in einem Kalender zusammengefasst. Inzwischen gibt es eine Wanderausstellung, die gerade in Forst in der Lausitz gastiert. Hier findet am 3. und 4. September auch das sehr große ‘Steamrose Zeitreise Festival’ (www.steamrose.de) statt.”
Zu den Besuchern des 5. “Steampunknoptikums” zählte auch Claudia Kauroff (45) aus Leipzig, die mit einem sehr coolen umgebauten Steampunk-Wohnwagen auf das Gelände fuhr. Sie erzählt: “Ich bin in den letzten fünf, zehn Jahren zum Steampunk gekommen. Genau kann ich das gar nicht sagen, die Jahre rennen so, wenn man erst einmal auf Zeitreisen unterwegs ist. Als Tochter einer Kunsterziehungslehrerin liebe ich es, Neues aus alten Dingen herzustellen.” So hat sie sich für kommende Corona-Zeiten etwa einen Rucksack mit zwei durchsichtigen Pflanzenröhren gebaut, die reinen Sauerstoff zur aufgesetzten Maske senden.
Derweil machte das Duo “Chris-Tho” aus der Nähe von Dresden Musik. Aus ihrer steampunknoptischen Musikschatulle spielte Jazz, Schlager und Swing aus den 20er, 30er und 40er Jahren. Thomas: “Der Steampunk hat gar keine eigene Musikrichtung, die zu ihm gehört. Aus diesem Grund spielen wir die goldenen Songs aus der damaligen Zeit.” (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 198 (9/2022).
Wir haben schon einmal einen Artikel zum 3. Steampunknoptikum geschrieben. Sie finden ihn hier!
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