Scheibes Glosse: Freundlich fahren

Ich fahre mit meinem Auto gern flott, zügig und schnell. Aber ich bin ja durchaus lernfähig. Für die Umwelt, für ein sanftes Gemüt und auch für das Absinken der Unfallquote gehe ich gern vom Gas, um fortan als umsichtig und langsam fahrender Verkehrsteilnehmer etwas für die Karmapunkte der Berliner Großstadt zu unternehmen. Zu schade, dass die anderen Autofahrer meine Bemühungen so gar nicht zu schätzen wissen.
Eigentlich ist es ja ganz egal, wie schnell ich mit dem Auto fahre. Trete ich das Gaspedal einmal nicht bis zum Anschlag durch, sondern rolle entspannt und geschwindigkeitsreduziert meinem Ziel entgegen, so komme ich trotzdem nur ein paar Minuten später am anvisierten Zielpunkt an.
Und so verzichte ich ab sofort auf den Bleifuß, höre zur Einstimmung ganz langsame Musik und kurbele das Fenster herunter, damit ich unterwegs die Luft spüren und die ob meiner Taten dankbare Umwelt besser wahrnehmen kann.
Auf meinem ganz langsam dahinschleichenden Weg durch Berlin merke ich, wie gut mir dieses Fahren tut. Ich muss nun nicht mehr permanent die parkenden Fahrzeuge im Auge behalten, um versteckte Blitzer rechtzeitig wahrzunehmen. Und auch die Polizei ist nun mein Freund und Helfer. Ich nicke den Beamten im blauweißen Auto neben mir freundlich zu; wir sind jetzt ein Team. Die Polizisten schauen komisch, überholen mich genervt und fahren mit 60 Stundenkilometern weiter, obwohl doch nur 50 erlaubt sind.
Nicht mit mir. Ich werde von einem Mofa überholt, das nur 45 km/h fahren darf. Dann die erste unangenehme Erfahrung. Ich werde böse von einem Bonzen-SUV überholt, geschnitten und ausgebremst. Da mein Fenster offen ist, höre ich viel zu deutlich: „Du Spinner! Wenn du fahren willst wie eine Frau, lass dir Brüste wachsen!“ Oha, das ist aber nicht sehr woke, zivilisiert oder geschlechtersensibel!
Ich fahre natürlich rechts, damit ich niemanden störe. Alles ist sehr gechillt. Da reißt plötzlich ein Mann die Fahrertür seines parkenden Autos auf, um auszusteigen. Ich muss nach links ausweichen, um ihm nicht die Tür abzufahren. Da ich langsam fahre, ist das kein Problem. Ein weiterer Vorteil meiner neuen Fahrweise. Rechts neben mir brüllt der ausgestiegene Autofahrer: „Du Idiot! Pass auf, wo du mit deiner hässlichen Mähre hinfährst, du Trottel.“ Und links schreit es aus dem Wagen, der neben mir fährt: „Bist du betrunken? Das ist meine Spur, du hirnverbrannter Ossi!“ Nur weil ich kein Berliner Kennzeichen trage, muss man ja nicht gleich den alten Ost-West-Konflikt wieder aufleben lassen.
Ich schüttele mit dem Kopf und lasse mir meine gute Laune nicht verderben. An einem Zebrastreifen halte ich vorausschauend an, denn eine liebe alte Omi schickt sich an, über die Straße zu gehen. Als sie auf meiner Höhe ist, hält sie inne, sicherlich, um mir ergriffen zu danken. Stattdessen semmelt sie mir ihre Handtasche so auf die Motorhaube, dass es eine Delle gibt: „Sie Schnösel. Hetzen Sie mich doch nicht so. Sie hätten locker noch weiterfahren können. So schnell kann ich doch gar nicht mehr über die Straße humpeln, Sie Rindviech.“
An der nächsten Ecke halte ich an und winke mit der Hand, um ganz besonders freundlich ein blinkendes Auto in meine Spur vorzulassen. Der Fahrer hupt und kurbelt sein Fenster herunter: „Hast du mir gerade den Finger gezeigt? Willst du sterben?“ Nein, ich wollte nur höflich sein.
An der Ampel war früher Dunkelorange meine Farbe, um noch einmal extra Gas zu geben. Das war einmal. Ich bin ein anderer Mensch geworden. Wenn wir alle etwas umsichtiger fahren, wird Berlin zu einer Vorzeigestadt, was den Verkehr anbelangt. Und so bremse ich bereits ab, als mir das Grün an der Ampel vor mir schon zu lange angezeigt wird. Und bei Gelb stehe ich bereits. Sicher ist sicher. Der Autofahrer hinter mir steigt in die Eisen und schafft es gerade noch so, abzubremsen, ohne mich zu rammen. So ein Rüpel! Im Rückspiegel sehe ich, wie er abwechselnd gegen seine Stirn und auf seine Uhr tippt. Soll ich ihm sagen, dass es im kosmischen Fluss der Zeit nie auf ein paar Minuten ankommt?
Auf der nächsten Kreuzung stelle ich mich etwas ungeschickt an, weil ich einen Radfahrer vorlassen möchte. Dieses Vorbild der Verkehrsrevolution verdient es, vor mir über die Kreuzung fahren zu dürfen. Respekt muss sein. Leider schneide ich ihn dabei ein wenig. Zum Dank tritt er mir den Seitenspiegel ab und lässt lautstark vernehmen, dass ich ein Arschloch bin!
Gut, es reicht. Morgen fahre ich wieder wie ein Rüpel, das ist deutlich entspannender und mit weniger Schimpfwörtern verbunden. Die Berliner sind für meinen neuen Fahrstil noch nicht bereit. (CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 195 (6/2022).
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