Für Zeitreisende: 3. Steampunknoptikum auf Eiswerder!

Am ersten Wochenende im August vermischten sich in der lokalen Galerie Inselspinnen auf Eiswerder in Spandau die Zeitlinien. Die Zukunft und die Vergangenheit tanzten miteinander im Strudel, als die Steampunks zum 3. Steampunknoptikum einluden. Steampunk – das ist ein Literaturgenre aus der Science Fiction, aber auch ein Lebensgefühl, ein kultureller Spaß.
Johnny Egon Sachse (60) aus Rudow: “In der Science Fiction gibt es ein Genre, das nennt sich Cyberpunk. In einer kaputten Zukunft ist die Anarchie ausgebrochen, alle schrauben sich selbst ihre Technik zusammen, um zu überleben. Wie wäre es, wenn man diese zukünftige Lebensweise in die viktorianische Zeit zurückverlegt? So ist im Rahmen des Retrofuturismus der Steampunk entstanden.”
Überzeugte Steampunks tragen meist eine aufwändig handgeschneiderte Kleidung mit Westen und Zylindern bei den Herren sowie schönen Kleidern mit viel Spitze bei den Damen. Der historische Schick wird mit vielen Zahnrädern und einer antik-futuristischen Technik modifiziert.
Johnny Egon Sachse: “Bastler, Autoren, Musiker, jeder kann sich auf seine Weise in der Steampunk-Szene entfalten. Auf den Veranstaltungen und Festen trifft man viele schicke Adlige. Im Steampunk kann man aber alles sein, so etwa auch Luftschiffheizer, U-Boot-Kapitän oder Bettlerin. Wenn man ein Gefühl für den Steampunk bekommen möchte, liest man am besten Jules Vernes ‘20.000 Meilen unter dem Meer’, schaut den Film ‘Wild Wild West’ oder blättert im Manga-Comic ‘SteamBoy’. Übrigens hört der Steampunk im Viktorianischen Zeitalter noch lange nicht auf. Es bilden sich immer weitere Zeitlinien aus. Der Dieselpunk beschäftigt sich mit den 30er Jahren, beim Teslapunk geht es um die Erfindungen des Nicolas Tesla und der Atompunk ist bereits in den 50er Jahren angesiedelt.”
Auf dem 3. Steampunknoptikum, das in diesem Jahr etwa 200 Besucher an zwei Tagen angelockt hat, traf sich die Szene, flanierte an den Ständen mit handgemachten Accessoires vorbei, traf sich zum Schwätzchen, ließ sich von den Tea Time Stewardessen bespaßen oder lauschte verschiedenen Live-Bands – wie etwa “Dumdideley”, die sich als “Spielmannleute zukünftiger Vergangenheiten” beschreiben. Wave, Dark Cabaret und sogar Gothik Rock: Es gibt überraschend viele Musikrichtungen im Steampunk.
Johnny Egon Sachse: “Die Steampunk-Szene in Berlin ist noch sehr überschaubar. Wir müssen sonst ins Ruhrgebiet oder nach Buxtehude fahren, um Gleichgesinnte zu treffen. Dabei leben wir den Punk: Jeder ist frei, das zu tun, was er möchte. Schlussendlich sind wir aber nur Science-Fiction-Freunde, die ihr Hobby ausleben. Dabei sind wir uns in der kleinen Szene inzwischen so vertraut, dass das Wort Gemeinschaft gar nicht mehr ausreicht. Wir sind Familie. Und wir sind meist sehr gut drauf und freundlich, es gibt nur ganz wenig Miesepeter. Wenn man uns auf Märkten oder Veranstaltungen trifft, erklären wir immer gern, was wir da tun und was es mit dem Steampunk auf sich hat. Das zaubert vielen Fragenden ein Lächeln ins Gesicht.”
Was die Steampunks tragen, das ist ihre ganz normale retrofuturistische Kleidung. Das Wort “Kostüme” sagt ihnen nicht zu, das sei ja nur etwas für Fasching. Entsprechend viel Mühe und Aufwand betreiben die Steampunks, wenn es um ihr Outfit geht. Fast alles ist selbstgemacht und in Eigenleistung verziert.
Johnny Egon Sachse: “Recycling ist uns ganz wichtig. Viele Accessoires entstehen aus Dingen, die ansonsten weggeworfen werden. Früher hatten die Dinge noch eine andere Wertigkeit, da wurde eine Nähmaschine über Generationen weitervererbt. Diesen Zeiten trauern wir nach. Heute geht ja alles nach zwei Jahren gewollt kaputt und landet dann auf dem Müll. Wenn ich an einem neuen Projekt arbeite, dann habe ich als Bastler gleich drei Mal Spaß. Das erste Mal, wenn ich auf den Flohmärkten unterwegs bin und nach neuen Dingen suche, die mich ansprechen. Das zweite Mal, wenn ich verschiedenste Materialien zusammenführe und daraus etwas Neues erschaffe. Und das dritte Mal, wenn ich das neue Stück dann auf einer Veranstaltung präsentieren darf.”
Das sieht auch Eddie Rabe von der Galerie Inselspinnen so: “Wenn wir Steampunks etwas Neues bauen, dann schreiben wir oft auch eine Anleitung und protokollieren den Werdegang mit vielen Fotos. Wir sind stolz auf das, was wir da erstellen – und geben unsere Ideen gern weiter. Imitation ist die größte Form der Anerkennung.”
Wer sich wundert, dass die Steampunks coole Nickelbrillen mit merkwürdigen Zahnrädern an den Seiten tragen, muss nur fragen. Johnny Egon Sachse: “Wir sind ja alle Zeitreisende. Die Brillen, das sind unsere Goggles. Die brauchen wir für eine rasante Fahrt durch die Jahrhunderte.”
Und nicht nur das. Wir sind ja im strengen Deutschland, da muss alles seine Ordnung haben. Johnny Egon Sachse: “Als Egon Helmut Walter Freiherr von Rudow bin ich ganz offiziell bestellter Kommissar aus dem Amt für Ätherangelegenheiten. Das bedeutet: Wer als Steampunk auf einer Veranstaltung seinen Zeitreiseausweis nicht dabei hat, riskiert einen offiziellen Rügezettel vom Amt.”
Tatsächlich besitzen die Steampunks in Leder eingeschlagene Zeitreiseausweise. Auf den Veranstaltungen werden hier Zeitreisevisa und lokale Temporalmarken eingeklebt. Das ist natürlich auch eine schöne Erinnerung an viele gemeinsame Treffen. (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 174 (9/2020).
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