Falkensee: Auf Stadtrundfahrt mit Gabriele Helbig

Die Geschichte eines Ortes, sie liegt oft im Verborgenen. Manchmal lohnt es sich, sie nicht nur theroretisch auf dem Papier oder anhand von Museums-Exponaten zu ergründen. Mitunter ist es viel eindrucksvoller, in den Bus zu steigen und der Historie dort nachzuspüren, wo sie begründet liegt.
Gabriele Helbig lädt als Leiterin vom Museum und Galerie Falkensee (www.museum-galerie-falkensee.de) ganz in diesem Sinne regelmäßig zu zweistündigen Stadtrundfahrten ein. Diese finden immer am 2. und 3. Samstag im Mai und im Oktober statt. Die Plätze für acht Euro (ermäßigt sechs Euro) sind in der Regel schnell vergeben.
Der Start einer solchen Stadtrundfahrt ist immer um elf Uhr am Falkenseer Busbahnhof. Da wartet dann ein Bus von Havelbus auf die Teilnehmer, die so äußerst komfortabel durch Falkensee kutschiert werden. Unterwegs geht es zu neun Stationen, die in chronologischer Reihenfolge von der Geschichte Falkensees künden.
Der Bus muss noch nicht einmal losrollen, da geht es auch schon los. Gabriele Helbig: „Seegefeld ist der älteste Ortsteil von Falkensee. Er wurde 1265 das erste Mal in einer Urkunde erwähnt. Seinen wirtschaftlichen Aufschwung nahm Seegefeld mit der Bahnlinie, die 1846 von Berlin nach Hamburg an Seegefeld vorbei gebaut wurde. 1848 hielten die ersten Züge, 1850 kam das Bahnhofsgebäude hinzu. Das war die Mitropa, die ältere Falkenseer noch kennen. Sie wurde leider abgerissen, nur die ehemaligen Schwingtüren sind im Museum noch erhalten. Wer weiß, wie viele Menschen damals durch diese Schwingtüren getreten sind, um Seegefeld zu erkunden.“
Durch die Bahn florierte Seegefeld. Hier gab es ab 1930 die große Post, die heute das Bürgeramt ist. Viele Geschäfte kamen an der Verbindungsstraße zwischen Seegefeld und Falkenhagen hinzu, so auch das Haus der Dame (heute Fahrradland). Aus der Zeit stammen auch die steinernen Figuren über dem Eingang der Volksbank, die Gottfried Kappen 1930 im Auftrag der Bank erschuf, um das Vertrauen der Menschen in die Bankgeschäfte wiederherzustellen. Die linke Figur zeigt einen Mann mit dünner Geldbörse, der die Bank betritt, um ihr sein Geld anzuvertrauen. Die rechte Figur verlässt die Bank mit praller Marie.
1925 wurden Seegefeld und Falkenhagen zu Falkensee zusammengeführt. Falkensee ist damit ein reiner Kunstname. Gabriele Helbig: „Wenn man die Bahnhofstraße entlangfährt, kann man hier die Baustile der letzten hundert Jahre auf kürzester Strecke betrachten. Das älteste Gebäude Falkensees ist die Seegefelder Kirche, die 1313 erstmalig urkundlich erwähnt wurde und in der später die Familie von Ribbeck das Patronat ausübte. Hinter dem Steinmetz Vogel verläuft ein schmaler Graben. Früher hieß es über diesen Grenzgraben: ‚Seegefeld und Falkenhagen werden getrennt durch einen Graben‘. Falkenhagen war von der Bahn zu weit entfernt. Der Ortsteil war viel einfacher und dörflicher. Das merkt man in der Bahnhofstraße sofort, weil sich hinter dem Grenzgraben die gesamte Bebauung ändert.“
Wo heute am Angerteich das „Creative Zentrum Haus am Anger“ zu finden ist, war früher die Dorfschule von Falkenhagen beheimatet. 1897 errichtet, ist das rote Ziegelsteingebäude heute 121 Jahre alt. Die Kirche, die am Anger zu sehen ist, entspricht dem dörflichen Charakter von Falkenhagen. Gabriele Helbig: „Das war immer schon eine einfache Bauernkirche. 1675 brannte sie bis auf die Grundmauern nieder und wurde 1680 neu aufgebaut. Sie ist eine offene Kirche und hat jeden Tag geöffnet. In der Nachbarschaft wohnte übrigens eine Zeit lang auch Wilhelmine Enke bei ihrem Bruder. Sie wurde später als die schöne Wilhelmine bekannt und schenkte dem Kronprinz als Geliebte sechs Kinder. In der Kirche sind noch Unterschriften von ihr erhalten – als Taufpatin für viele Kinder.“
Die nahe Freimuthstraße ist benannt nach Ernst Freimuth, dem ersten Bürgermeister von Falkensee, der 1912 ins Amt kam und erst 1933 aus ihm entlassen wurde. Damit ist er der dienstälteste Bürgermeister von Falkensee – mit 21 Dienstjahren. 1918 konnte er ins neu gebaute Rathaus umziehen. Im Erker, der von der Straße aus zu sehen ist, arbeiten seit nunmehr einhundert Jahren die Bürgermeister von Falkensee.
Die spannendste Haltestelle auf der Stadtrundfahrt, die Gabriele Helbig seit nunmehr zehn Jahren anbietet, liegt in Finkenkrug: „Und zwar nicht im heute bekannten Finkenkrug, sondern am ursprünglichen Ort, der bereits 1710 in Urkunden benannt wurde – als Teerofen und als Ort, an dem Holzkohle gebrannt wird.“
Der Alte Finkenkrug war nach 1777 die größte Ausflugsgaststätte westlich von Berlin. Tausende strömten in die idyllische Natur, auch Theodor Fontane schrieb 1870 über den Vier-Seiten-Gasthof, der so einen Sog auf die Berliner ausübte, dass Sonderzüge die Besucher aufs Land brachten.
Gabriele Helbig: „Heute ist nur noch das Schild ‚Alter Finkenkrug‘ an der Stelle zu sehen, wo früher einmal die Gaststätte war. Auf dem Weg nach Nauen fährt man direkt daran vorbei. Die Geschichte vom ‚Alten Finkenkrug‘ endet in einer großen Tragödie. In der Nazizeit verliebte sich die Tochter des Besitzers in die Falkenseer Nazigröße Robert Grüneberg, Kreisleiter der NSDAP. Die Nazis vereinnahmten den Finkenkrug sofort für ihre Feiern und Aktivitäten. Als dann zu Kriegsende der Russe vor der Tür stand, forderte Robert Grüneberg im April 1945 seine Frau auf, sich selbst und den beiden Kindern das Leben zu nehmen, da es keine Hoffnung mehr gäbe. Die Mutter brachte es nicht übers Herz, starb aber mit den Kindern im Gasthof, als der Bruder es mit einer Panzerfaust in Brand setzte.“
Etwa 45 Teilnehmer lauschten auch am 12. Mai dieser ergreifenden Geschichte. Die damit noch nicht zuende ist. Denn damals um 1850 hielt die Bahn mitten im Nichts, um die Besucher der Gaststätte auf einen Marsch durch die Natur zu schicken. 1888 hatte der Kaufmann Bernhard Ehlers das Land rund um den Bahnhof gekauft – und errichtete hier die Kolonie Finkenkrug. Gabriele Helbig: „Das war ein regelrechter Namensklau, denn die Bezeichnung Finkenkrug gab es ja schon. 1892 wurden die ersten Grundstücke an neue Bewohner verkauft. Ehlers kümmerte sich auch um den Bau einer Schule und einer Post. Als Freibad ließ er den Lindenweiher ausheben – da haben viele Finkenkruger das Schwimmen gelernt. Ab 1898 kümmerte sich eine Ansiedlungsbank um die Parzellierung der Grundstücke – an sie hatte Ehlers Grund und Boden verkauft. Große Villen und Siedlungshäuser wurden hier gebaut. Die Finkenkruger sehen sich auch heute nicht wirklich als Falkenseer. Sie wurden 1927 per Zwang an Falkensee angeschlossen, so wie kurz zuvor die Spandauer an Berlin.“
Natürlich führt die Stadtrundfahrt auch in die Feuerbachstraße. Hier, direkt neben der Lessing-Grundschule, lebte im jetzigen Hort der Schule die Dichterin Gertrud Kolmar von 1923 bis 1939, bevor sie 1943 von den Nazis ins KZ Ausschwitz deportiert und hier ermordet wurde. Gabriele Helbig: „Gertrud Kolmar war eine bedeutsame Naturdichterin. Ich selbst bin in Falkensee aufgewachsen und habe in meinem gesamten Schulleben nie etwas von Kolmar gelesen. Das finde ich erschreckend. Ich hoffe sehr, dass die Werke von Kolmar zumindest heute Eingang in den Unterricht gefunden haben.“
Vor Ort erklärt die Museumsleiterin, dass eine bekannte Prominente gerade Kolmar neu für sich entdeckt habe. Sie sei eine ehemalige Schülerin der Lessing-Grundschule, die heute jeder kennt – Nina Hagen. Helbig: „Es heißt, Nina Hagen habe die Lyrik von Gertrud Kolmar vertont. Es wäre ein Traum, wenn sie einmal nach Falkensee kommen würde, um hier eine Lesung zu geben.“
Vor dem Haus von Gertrud Kolmar wurden übrigens die allerersten Stolpersteine von Gunter Demnig in Falkensee verlegt – für Gertrud und ihren Vater. Für beide war es der letzte bekannte Wohnort vor ihrem gewaltsamen Tod.
Weiter führt die Busfahrt zum Hexenhaus, das 1903 vom Textil-Kaufmann Steinmetz erbaut wurde – als Landhaus Waltraud. Die Besonderheit – das Hexenhaus wurde aus kompletten Eichenstämmen mit Rinde errichtet. Gabriele Helbig: „Eigentlich sind es aber drei Sommerhäuser im Jugendhausstil, die zusammen eine Einheit bilden. Dazu gehören auch noch die Villa Storchennest und das Birkenhäuschen. Letzteres wurde aus kompletten Birkenstämmen gebaut. Da Birke aber nicht so hart ist wie Eiche, haben diese Stämme das Jahrhundert nicht überdauert.“
Wichtig ist Gabriele Helbig auch der Geschichtspark in Falkensee: „In Kriegszeiten gab es richtige Industrie in Falkensee. In den DEMAG-Werken wurden Panzer hergestellt. Das größte Außenlager vom KZ Sachsenhausen lag in Falkensee. 2500 Häftlinge aus allen Ländern Europas wurden von 1943 bis 45 dazu gezwungen, in der Rüstungsindustrie zu arbeiten.“
Dass die Mauer gefallen ist, die Falkensee damals ganz plötzlich von den Lebensadern nach Berlin abgeschnitten hatte, findet die Museumsleiterin gut: „Noch vor 30 Jahren hätte ich die Geschichte Falkensees nie so offen und hinterfragend erzählen dürfen. Und wir wären auch niemals so nahe an die Mauer herangekommen.“
Dezernentin Luise Herbst war als Vorgesetzte von Gabriele Helbig das erste Mal auf einer Stadtrundfahrt mit dabei: „Mir hat sehr gut gefallen, dass die Rundfahrt sehr chronologisch aufgebaut war und so eine kontinuierliche Geschichte erzählt. Dabei konnte man viel lernen.“ (Fotos / Text: CS)
Dieser Artikel wurde in „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 147 (6/2018) veröffentlicht.
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